Mia san anfällig: Der FC Bayern braucht die Boateng-Mentalität

Von Fatih Demireli
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© getty

Der FC Bayern München legte bei Viktoria Pilsen eine 45-Minuten-Gala hin. 4:0 zur Pause, ein neuer Rekordsieg schien sich anzubahnen. Doch nach dem Seitenwechsel schlich sich wieder der Schlendrian ein und ein eigentlich perfekter Champions-League-Abend hatte wieder einen faden Beigeschmack. Und nun gehen die Diskussionen wieder los.

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Am 30. März 2013 gastierte der Hamburger SV beim FC Bayern. Ein Spiel, das zur Folge hatte, dass die Mannschaft der Gäste die eigene Anhängerschaft zum Grillfest einlud. Nicht, weil man in München gewann und feiern wollte, sondern weil man mit 2:9 verlor und etwas gutmachen wollte. Es war eine Saison, in der die Bayern am Ende die Champions League gewannen und das HSV-Spiel war ein seriöser Hinweis dafür, wie gut sie damals waren.

Bei jenem Spiel gab es in München dennoch Diskussionen - während und nach dem Spiel. Beim Stande von 8:0 gelang dem HSV durch Innenverteidiger Jeffrey Bruma das erste HSV-Tor des Abends, fünf Minuten später köpfte Heiko Westermann das Tor zum 2:9. Beim ersten Gegentor faltete Jerome Boateng seine Vorderleute zusammen, beim zweiten übernahm Luiz Gustavo diesen Part.

"Die Gegentore sollten uns wachrütteln", schimpfte damals Sportvorstand Matthias Sammer und forderte, dass die Spieler "wieder zu Maschinen" werden, weil es zwischendurch "menschelte" und Menschen eben Fehler machen. Der FC-Bayern-Spieler im Oktober 2022 ist deutlich mehr Mensch als Maschine.

Boateng, der damals so erbost auf ein Gegentor reagierte, dass man hätte glauben können, der FC Bayern hätte gerade den Titel verspielt, würde heute wohl mit Tätlichkeiten gegen die eigenen Spieler vom Platz gestellt werden, wenn er noch bei den Bayern wäre.

FC Bayern in Pilsen: Statistiker suchten nach dem höchsten Sieg

Man muss sich ja nicht gleich an die Gurgel gehen, aber dem FC Bayern geht es derzeit ab, dass man Gegentore persönlich nimmt und sich daher nicht mit letzter Anstrengung gegen ein solches Gegentor zu wehren scheint. Es fehlt ein bisschen an dieser Boateng-Mentalität in München.

Beim 4:2 bei Viktoria Pilsen war es im ersten Durchgang eine Machtdemonstration, die ihresgleichen suchte. 4:0-Halbzeitstand, die Statistiker überprüften schon mal den höchsten Sieg in der Champions-League-Geschichte (je ein 8:0 von Real Madrid gegen Malmö FF und vom FC Liverpool gegen Besiktas).

Aber nach der Pause wurde es zu einem gewöhnlichen Spiel für die Geschichtsbücher des Klubs. Pilsen spielte in der Verzweiflung der drohenden Blamage munter drauf los, zwang die Münchener zum defensiven Handeln und erlaubte Sven Ulreich sogar, dass er sich unverhofft auszeichnen durfte.

Ein 4:2 gegen einen Gegner, der zur Halbzeit selbst mit einem 0:4 noch zufrieden gewesen wäre, ist kein Thema, das man komplett ignorieren kann. "In der zweiten Halbzeit haben wir ein bisschen zu wenig gemacht. Das war unnötig", sagte Ulreich nach dem Spiel. Auch Doppel-Torschütze Leon Goretzka forderte abermals: "Wir müssen es seriös zu Ende spielen."

FC Bayern: Viele Ausfälle - aber keine Entschuldigung

Doch genau da beginnt das Problem der Bayern - schon am vergangenen Wochenende gab man im Auswärtsspiel gegen Borussia Dortmund eine 2:0-Führung aus der Hand, weil man den berühmten Sack "nicht zumachen" konnte, wie Julian Nagelsmann noch im Signal-Iduna-Park richtig feststellte.

Erst spricht man über die Offensivabteilung, die ihre Chancen nicht konsequent nutzt, nun ist es inzwischen wieder die Defensive, die wieder in die Kritik gerät, weil die Gegentore zu leicht fallen bzw. die Chancen dafür zu einfach generiert werden.

Sicherlich ist das in diesem Spiel auch mit den vielen Ausfällen beim FC Bayern erklärbar. Nagelsmann musste gegenüber dem 2:2 in Dortmund fünf Wechsel vornehmen. Manuel Neuer (Schultereckgelenkprellung), Matthijs de Ligt (muskuläre Probleme im Hüftbereich), Alphonso Davies (Schädelprellung), Jamal Musiala (Corona) sowie Serge Gnabry (Kapselblessur im Knie) fehlten in Tschechien.

Als das Spiel abgepfiffen war, sah die Viererkette wie folgt aus: Noussair Mazraoui auf der rechten Seite, Benjamin Pavard und Josip Stanisic als Innenverteidiger, als Linksverteidiger agierte Paul Wanner.

FC Bayern: Paul Wanner spielt als Linksverteidiger

Wie sträflich der 16 Jahre alte Österreicher beim 2:4 alleine gelassen wurde, steht exemplarisch für die Probleme der Münchener, die im Hinblick auf das schwere Spiel beim SC Freiburg am Sonntag natürlich etwas den Schongang einlegen mussten. Aber das ist keine Entschuldigung für einen Verzicht auf konzentrierte Defensivarbeit. Noch ein schnelles Gegentor und das stimmungsvolle Stadion wäre so laut geworden, dass die Bayern sich dann selbst um den Sieg noch hätten Sorgen machen müssen.

So war es ein Sieg ohne Schaden, aber wenn sich die Münchener nicht allmählich daran gewöhnen, wieder gallig auf Zu-Null-Spiele zu sein, wird sich der Schlendrian, der sich in der Mannschaft offenbar breitgemacht hat, nicht so einfach beseitigen lassen. Die Münchener haben auch in Pilsen die Gelegenheit ausgelassen, zumindest ein Ausrufezeichen zu setzen, dass sie es auch über 90 Minuten können und sie keine 45-Minuten-Mannschaft sind.

In dieser Phase sind dann aber auch die Rotationsspieler gefordert, die entweder direkt äußern, dass sie unzufrieden mit ihrer Rolle sind, oder es andere sagen lassen. Wenn sie aber eine Chance haben, in der Startelf zu spielen oder einen längeren Zeitraum auf dem Platz stehen dürfen, müssen sie die Chance auch nutzen. So machen sich Gravenberch, Tel und Co. das Leben selbst schwer.

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