Auflösungserscheinungen bei Hertha BSC: Korkut ist nicht das Problem

Von Fatih Demireli
korkut
© getty

Das 1:4 gegen Eintracht Frankfurt war der nächste Tiefpunkt einer schwachen Saison von Hertha BSC. Auch wenn sich nun die Kritik auf den Trainer Tayfun Korkut konzentriert, sind die Gründe für den Misserfolg viel tiefer zu finden. Daher ist es fraglich, ob ein Trainerwechsel auch Hertha vor dem Abstieg in die 2. Bundesliga bewahren kann.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

"Zusammenreißen!" "Alles raushauen!" "Zusammenstehen!" Die Redakteure der Webseite von Hertha BSC klangen vor dem Spiel gegen Eintracht Frankfurt wie aus dem Phrasenautomaten. Man wirft 50 Cent rein und bekommt alle Floskeln, die man im Abstiegskampf so sagt, serviert.

Der Klub wollte die eigenen Anhänger dazu animieren, Tickets für das Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt zu kaufen, damit sie die Mannschaft in diesem wichtigen Spiel im Abstiegskampf unterstützen und griff hierfür zum Friedhelm-Funkel-Vokabular.

Ob es der Inspiration der Redakteure zu verdanken war, weiß man nicht, aber die Hertha-Anhänger kauften tatsächlich alle verfügbaren Tickets. Gemeinsam mit lautstarken Gästefans waren 25.000 Seelen im Olympiastadion. Doch von "Zusammenreißen!", "Alles raushauen!" oder "Zusammenstehen!" bekamen sie dann nichts zu sehen.

Hertha BSC ließ sich gegen die Hessen mit 1:4 (0:1) demütigen. Die vierte Niederlage in Folge. Die Berliner sind seit acht Spielen ohne Sieg, sind Letzter der Rückrundentabelle und am Relegationsplatz angekommen. Die Fans quittierten die Nicht-Leistung mit hämischen Gesängen und Pfiffen, die wiederum nicht bei allem Spielern gut ankamen.

Hertha BSC: Marc-Oliver Kempf ist sauer auf die Fans

"Ich fand es erschreckend, dass die eigenen Fans 'Absteiger' rufen. Das ist nicht schön und das ist auch nicht der Weg, wie wir als Verein gehen müssen. Die Fans müssen uns pushen", sagte Marc-Oliver Kempf nach dem Spiel in die Mikrofone der Öffentlich-Rechtlichen.

Zuvor knöpfte sich Kempf, Winterneuzugang vom Mitabstiegskandidaten VfB Stuttgart, bei Sky auch seine neuen Mannschaftskollegen vor. "Das kotzt mich übertrieben an. Da muss jeder hier angekotzt genug sein, um sich den Arsch aufzureißen und drei Punkte mit nach Hause zu nehmen. Das muss jeder verstehen und nicht nur larifari hier rumlaufen und sich wieder 4:1 wegschießen lassen."

Jeder, also auch Kempf. Denn der 27 Jahre alte Verteidiger (25 Prozent gewonnene Zweikämpfe, 10 Ballbesitz-Verluste) gehörte zu denen, die sich abschießen lassen haben.

Angesprochen auf die Kempf-Aussagen, zeigte sich Trainer Tayfun Korkut wenig beeindruckt. Er ist eh nicht der Typ der Emotionen, der verbal die Arme hochkrempelt und mal einen raushaut, damit es irgendwo gut ankommt. Korkut sagte: "Ich bin mir sicher, egal, wen sie vor das Mikrofon geholt hätten, die Aussagen wären ähnlich gewesen."

Die Hertha-Fans skandierten: "Absteiger, Absteiger!"
© imago images
Die Hertha-Fans skandierten: "Absteiger, Absteiger!"

Tayfun Korkut: Nur Otto Rehhagel startete schlechter

Nicht ganz. Davie Selke, seit 2017 bei Hertha, äußerte sich bei Sky zu den Pfiffen, die es beim Gang der Mannschaft zur Fankurve gab: "Da müssen wir uns stellen und die Fans dürfen gerne Dampf ablassen. Wir wissen selbst, dass wir kämpfen müssen, kriegen es aber nicht hin. Wenn die Fans dann stinkig sind, müssen wir das schlucken." Offenbar hatte Kempf nicht nur Probleme beim Verteidigen, sondern auch beim Schlucken.

Diese Uneinigkeit bei Hertha steht symbolisch für das, was der Klub im März 2022 darstellt: All das, was man propagiert, fordert und herausposaunt, wird nicht gelebt. Nicht beim Investor Lars Windhorst, der als großer Hertha-Fan seit Kindheit angetreten war, aber nun öffentlich sein Engagement bereut. Nicht in der sportlichen Führung, die vor allem in Person von Fredi Bobic noch kein Erfolgsrezept gefunden hat. Nicht in der Mannschaft samt Trainer, die sportlich in dieser Saison wieder mal versagt.

Im besonderen Fokus steht Tayfun Korkut, der im November Pal Dardai ersetzte, um den Klub nicht nur vor dem Abstieg zu bewahren, sondern auch vom Abstiegskampf. Aber neun Punkte nach zwölf Spielen, ist eine bittere Bilanz. Nur Otto Rehhagel war 2012 schlechter. Damals stieg Hertha BSC nach der Relegation gegen Fortuna Düsseldorf ab.

Hertha BSC: "Egoismen" in der Mannschaft

Hertha droht nun der nächste Absturz und sportlich findet man gerade wenig Argumente, die dagegensprechen. Klar, Hertha hatte zuletzt viele Ausfälle, besonders Corona hat die Mannschaft schwer getroffen und auch wenn gegen Frankfurt nur noch zwei Spieler nicht zur Verfügung standen, waren nicht alle auf ihrem körperlich höchsten Niveau.

Aber Hertha verliert Woche für Woche auch die wenigen Stärken, die man hat. Der Hauptstadtklub präsentierte sich - trotz Negativserie - mannschaftlich geschlossen, doch davon kann spätestens gegen Frankfurt keine Rede mehr sein. Immer mehr bröckelt das Bild einer intakten Mannschaft. Bei Hertha machen sich Auflösungserscheinungen sichtbar.

Der wütende Kempf hatte im Kern seiner Aussagen recht, wenn er kein Aufbäumen erkannte. Auch Bobic sprach in der letzten Woche beim Sport1-Doppelpass von "Egoismen" in der Mannschaft. Man müsse herausfiltern, "wer für diese Situation die richtigen sind. Nur der, der voll marschiert", sagte Bobic.

Doch die Frage ist, wie hochwertig die Handlungsoptionen der Berliner sind und ob man den Luxus hat, großartig zu selektieren. Denn der Kader sieht nicht so aus, als hätte den Klub vor geraumer Zeit einen gewaltigen Geldschub erreicht. Korkut muss nicht nur wegen Verletzten und Kranken umbauen, sondern auch, weil Hertha eigentlich keine Wunschelf hat, die konstant von Erfolgen träumen lässt.

Hertha BSC: Es fehlt an Qualität

Ganz im Gegenteil: Es fehlt in allen Mannschaftsteilen an Qualität. Angefangen bei Torhüter Alexander Schwolow, der in der laufenden Saison keinen Rückhalt darstellt, über die Innenverteidiger und das Mittelfeld in allen Bereichen, bis nach vorne zu den ungefährlichen Stürmern wie Selke oder Ishak Belfodil.

Die wichtigen Abgänge (allen voran Cunha) im Sommer wurden nicht aufgefangen, im Winter holte Hertha mit Dong-jun Lee, Marc-Oliver Kempf, Nsona Kelian und Fredrik Björkan vier neue Spieler, die allesamt noch keine Verstärkung darstellen. Wie auch? Wenn selbst gestandene Herthaner nicht mal ihre Normalform erreichen und verunsichert sind.

Es ist die Aufgabe des Trainers, Sicherheit zu schaffen und Einzelspieler zu verbessern. Aber Korkut ist ein Opfer des Gesamtkonstrukts und nicht das eigentliche Problem der Hertha. Selbst Ur-Herthaner Dardai hatte die gleichen Probleme und konnte sich nicht lösen. Nun Korkut.

Was spricht dafür, dass ein Trainer, den die Hertha aktuell bekommen könnte, es besser machen soll? So denkt wohl auch Bobic, der seinem Trainer eine Jobgarantie bis Saisonende gab un für Sommer eine "Zäsur" ankündigte, in der alles besprochen werde.

Was passiert, wenn Lars Windhorst keine Lust mehr hat?

Dass Korkut danach Trainer bleibt, wirkt genauso ausgeschlossen, wie die Vorstellung, dass das Kaderbild 2022/23 so sein wird wie heute. Berliner Medien brachten zuletzt längere Streichlisten ins Spiel. Selbst Kaliber wie Vizekapitän Niklas Stark stehen demnach nicht mehr im Fokus für die neue Spielzeit.

Wichtig wird sein, in welcher Liga Hertha dann spielt. Ein Abstieg wäre eine Katastrophe. Möglich, dass Windhorst trotz entgegengesetzter Ankündigung sein Engagement in der Big City vorzeitig beendet. Welche Auswirkungen das für die Hertha hätte, kann man sich aktuell nicht ausmalen. Ob Bobic auch in der 2. Liga bleibt, ließ er beim TV-Stammtisch zuletzt auch unbeantwortet.

Der Abstieg muss verhindert werden, um das Chaos nicht noch größer werden zu lassen. Maßnahmen stehen den Hertha-Bossen nicht viele zur Verfügung. Daher kommt man wieder zum Trainer: Verliert Hertha weiter, wird Korkut - trotz Bobics Schwur - kaum zu halten sein.

Die Fans skandierten gegen Frankfurt auch "Korkut raus!"-Rufe. "Da stehe ich drüber", sagte der Schwabe, der in seiner bisher komplizierten Trainerkarriere schon einige Krisen zu meistern hatte. Korkut bleibt also ruhig.

Auf der Pressekonferenz analysierte er in aller Ruhe die 90 Minuten, blieb sachlich und legte den Fokus schon auf die Vorbereitung für das Spiel bei Borussia Mönchengladbach um. Keine Parolen, keine Ansagen. Vielleicht sollte er, wenn er denn im Amt bleibt, öfter die Hertha-Homepage lesen.