Kommentar zum VfB Stuttgart: Sven Mislintat geht All-In

Von Stefan Rommel
Sven Mislintat spielt ein gefährliches Spiel.
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Der VfB Stuttgart steuert auf den dritten Abstieg in sechs Jahren zu. Während die Mannschaft im freien Fall ist, bleiben die Verantwortlichen erstaunlich ruhig. Sportchef Sven Mislintat spielt ein gefährliches Spiel. Ein Kommentar.

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Zwei Wochen Zeit, kaum noch Verletzte, ein Trainingslager auf Marbella - und dann so ein Spiel wie am Samstag gegen Frankfurt. Wenn es vorher auch der Letzte im Dunstkreis des VfB Stuttgart noch nicht wahrhaben wollte, spätestens nach dem fürchterlichen 2:3 gegen die Eintracht ist klar, dass der VfB ein kleines Wunder benötigt, um nicht nach 2016 und 2019 ein drittes Mal innerhalb von sechs Jahren abzusteigen.

Auf dem Papier sind noch 13 Spiele zu spielen, das scheint genug Zeit für eine Kehrtwende. Aber wie will diese Mannschaft, die bisher in 21 Spielen 18 Zähler eingefahren hat, ihren Punkteschnitt nahezu verdoppeln? Das jedenfalls wird wohl nötig sein, um auf 38, 39 oder 40 Punkte zu kommen und damit mindestens noch zwei andere Klubs hinter sich zu lassen.

Nach den Darbietungen der letzten Wochen deutet nichts darauf hin, dass die Stuttgarter nun plötzlich wieder anfangen ordentlichen (Kurzpass-)Fußball zu spielen. Oder dass ihre Innenverteidiger mal eine Partie ohne haarsträubende Fehler abliefern und nicht unglücklich angeschossen werden. Oder dass Wataru Endo und Orel Mangala aus ihren Formtiefs finden oder Silas und Sasa Kalajdzic nach mehr als einem halben Jahr Verletzungspause plötzlich explodieren. Oder sich am Ende ein paar Spieler im Kader finden lassen, die sich jetzt vehement und lautstark auf dem Platz gegen das sich anbahnende Unheil stemmen - und es nicht einfach über sich ergehen lassen.

Dinos Mavropanos und der VfB haben vier Punkte Rückstand auf das rettende Ufer
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Dinos Mavropanos und der VfB haben vier Punkte Rückstand auf das rettende Ufer

Die Konkurrenz punktet - der VfB nicht

Der VfB Stuttgart ist mal wieder in einer Endlos-Schleife gefangen, in der so vieles an die jüngsten Abstiege erinnert. Ohne Ergebnisse fehlt das Selbstvertrauen und ohne Selbstvertrauen das Selbstverständnis. Nachvollziehbare Ideen des Trainers funktionieren nicht und bekommen schnell einen aktionistischen Anstrich. Der eine oder andere falsche Schiedsrichterpfiff und die vielen Verletzten gelten zu lange als Ausrede, überdies kommt auch eine Portion Pech dazu.

Und eine Konkurrenz, die ab und zu dann doch auch mal ein Spiel gewinnt. Augsburg, Bochum, Bielefeld, Hertha punkten zwar unregelmäßig, aber sie punkten. Der VfB punktet nicht. Das ist der Stoff, aus dem Absteiger gemacht sind.

Mislintats gefährlicher Weg

Es gibt nur einen Unterschied zu den letzten Horrorjahren: Um die Mannschaft herum ist es für Stuttgarter Verhältnisse fast schon beängstigend ruhig. Das liegt zum einen daran, dass keine Fans in den Stadien sind. Leistungen wie die gegen Frankfurt oder vor zwei Wochen in Freiburg hätten eine akustische Reaktion verdient gehabt.

Vielleicht liegt es auch ein bisschen daran, dass sich die Fans nach zahllosen Enttäuschungen in der jüngeren Vergangenheit auch ein wenig entfremden von ihrem Klub. Das stete Auf und Ab zermürbt, zwei Jahre Pandemie verstärken den Effekt wohl noch. Es liegt aber ganz sicher daran, dass die Verantwortlichen händeringend darum bemüht sind, die Ruhe zu bewahren.

Sven Mislintat wird nicht müde zu betonen, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist. Der Klub müsse sich wirtschaftlich konsolidieren, die Spieler seien gut genug, "es ist eine Aufgabe, die Klasse zu halten", so Mislintat. "Aber wenn wir das schaffen - und selbst wenn wir scheitern - werden wir uns in vielen Themen weiterentwickeln, auch im Thema Führung. Nur in Krisen kommen die Jungs nach vorne, die automatisch führen können. Die kaufst du nicht ein."

Das ist in der Theorie richtig, in der Praxis kommt aber keiner der Jungs nach vorne, um zu führen. Und der eingepreiste Abstieg würde die Arbeit der letzten drei Jahre - und damit Mislintats Werk in Stuttgart - in gewisser Weise wieder auf Null zurückwerfen. Denn das Modell mit jungen, entwicklungsfähigen Spielern, die beim VfB lernen, sich zeigen und dann veräußert werden können, funktioniert in der 2. Liga nur leidlich.

Pellegrino Matarazzo kurz nach Abpfiff sichtlich niedergeschlagen.
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Pellegrino Matarazzo kurz nach Abpfiff sichtlich niedergeschlagen.

Was fällt Matarazzo noch ein?

So, wie sich Mislintat zuletzt äußerte, will der VfB den Weg auf keinen Fall verlassen. Dazu gehört auch das Festhalten am Trainer, komme was da wolle. Dabei fruchten auch dessen Maßnahmen aktuell nicht, die Umstellung auf eine Viererkette in der Abwehr, die vertauschten Rollen von Dinos Mavropanos und Waldemar Anton. Vielmehr entfernt sich der VfB immer noch ein Stück weiter von dem, was die Mannschaft in der letzten Saison noch ausgezeichnet hatte.

Pellegrino Matarazzo ließ seine Mannschaft über die Halbräume angreifen, das Stuttgarter Spiel fand dort immer wieder Stationen, um von dort aus Dynamik nach vorne zu entwickeln. Der VfB griff alternativ auch über das Zentrum an, mit kurzen Ablagen auf nachrückende Spieler und einem sehr direkten Stil. Und wenn das alles nicht funktionierte, ging es eben über die Flügel. "Flanke Sosa, Kopfball Kalajdzic" war ein Markenzeichen und der VfB war so variabel wie nur wenige anderen Mannschaften.

Vom ruhigen Aufbauspiel, dem Durchspielen der Ebenen mit flachen Pässen, Steil-Klatsch und Gegenbewegungen, um den Gegner ins Springen zu bekommen, ist im Moment kaum noch etwas zu sehen. Zwei, drei ordentliche Angriffszüge bekommt die Mannschaft hin wie beim Ausgleich Kalajdzics gegen die Eintracht oder bei der Chance Mangalas in der ersten Halbzeit. Der Rest sind lange Schläge beim geringsten Gegnerdruck. Trotz Kalajdzic in der Spitze als Wandspieler ein wenig vielversprechendes Rezept.

Auch deshalb ist Mislintats Vorhaben schon sehr mutig, sehr viel "Alles oder Nichts". Geht das gut, hat der VfB in der Tat mehrere Schritte auf einmal gemacht, die Mannschaft das Stahlbad durchlaufen, der Trainer seine schlimmste Krise gemeistert. Und wenn nicht? Steht Stuttgart schon wieder vor einem Neuanfang - und der großen Gefahr des endgültigen Kollapses.

Bundesliga: Untere Tabellenhälfte

PlatzTeamSp.ToreDiffPkt.
10.Mainz 052130:23730
11.Bochum2120:30-1025
12.Wolfsburg2121:33-1224
13.Borussia M'gladbach2127:38-1123
14.Hertha BSC2123:43-2023
15.Arminia Bielefeld2121:27-622
16.Augsburg2122:35-1322
17.Stuttgart2124:38-1418
18.Greuther Fürth2118:56-3810
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