Handball-EM: "Mit ihm ist nichts besser geworden!" Warum für Bundestrainer Alfred Gislason der Job auf dem Spiel steht

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Die Heim-EM ist nicht nur für den deutschen Handball insgesamt von enormer Bedeutung. Auch für Alfred Gislason persönlich steht bei seinem fünften großen Turnier als Bundestrainer viel auf dem Spiel. Unumstritten ist der Isländer nämlich nur für den Moment.

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Alfred Gislason scheint ein Mensch mit masochistischen Zügen zu sein. Steht der 64-Jährige mit dem Rücken zur Wand, blüht er erst so richtig auf. "Ich liebe diesen Druck", sagte der Mann aus Akureyri wenige Tage vor EM-Beginn auf die hohe Erwartungshaltung an sich und seine Mannschaft angesprochen.

Gislason befindet sich nämlich trotz des Traumstarts gegen die Schweiz (27:14) in einer verzwickten Lage. Er muss mit einer Mannschaft, deren Qualität auf dem Papier eher nicht dafür ausreicht, womöglich das Halbfinale erreichen, um seinen Job zu behalten.

"Ich weiß, wie schnell es gehen kann. Ich weiß auch, dass wir das Halfinale möglichst erreichen müssen", machte sich Gislason im ARD-Film "Alfred Gislason - Schicksalstage eines Bundestrainers" keine Illusionen.

Der Hintergrund: Gislason sitzt keineswegs bombenfest im Sattel. Die enttäuschenden Ergebnisse der vergangenen Jahre haben bei wichtigen Personen im deutschen Handball Zweifel wachsen lassen.

Hanning über Gislason: "Mit ihm ist nichts besser geworden"

"Ich habe mitnichten eine Anti-Haltung zu Alfred Gislason. Ich habe ein sehr gutes und sehr ehrliches Verhältnis zu ihm. Eine Trainer-Diskussion, wie sie jetzt von manchen geführt wird, mit nur noch drei, vier Trainingseinheiten bis zur EM, ist einfach falsch. Insofern bin ich Lager Gislason. Aber ich sage auch: Mit ihm ist nichts besser geworden als mit Christian Prokop. Nicht von den Platzierungen und nicht von der Entwicklung."

Diese bereits Ende Mai in der FAZ getätigte Aussage von Bob Hanning schlug im deutschen Handball-Kosmos hohe Wellen. Und mit Fakten lassen sich die Sätze des ehemaligen DHB-Vizepräsidenten, dessen Worte nach wie vor Gewicht haben, auch sieben Monate später nicht wirklich widerlegen.

Gislason hat im Vergleich mit seinem im Februar 2020 entlassenen und viel kritisierten Vorgänger Prokop genauso viele Siege (38:38) eingefahren und mehr Niederlagen (17:10) kassiert. Die Anzahl der Unentschieden (4:5) fällt nicht wirklich ins Gewicht.

Auch die Turnierbilanz spricht nicht für Gislason. Nach einer enttäuschenden EM 2018 in Kroatien, als die DHB-Auswahl als Titelverteidiger angetreten lediglich Platz neun erreichte, sprangen unter Prokop durchaus solide Resultate heraus: Platz vier bei der gemeinsam mit Dänemark ausgetragenen WM 2019 und Rang fünf bei der EM 2020 in Norwegen, Österreich und Schweden.

Und Gislason? Der startete bei der Weltmeisterschaft 2021 in Ägypten mit der schlechtesten Platzierung (Rang 12) der deutschen WM-Geschichte. Es folgten Rang sechs bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio, Platz sieben bei der EM 2022 in Ungarn und der Slowakei sowie Rang fünf bei der WM 2023 in Polen und Schweden.

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DHB-Team: Nur ein Sieg gegen eine große Nation

Aus den Spielen gegen die sogenannten großen Nationen steht unter Gislason mit dem 28:23 gegen Norwegen bei Olympia in Tokio nur ein einziger Sieg bei einem großen Turnier zu Buche. Dass die deutsche Nationalmannschaft in solchen Partien zu selten liefert, war immer ein zentraler Kritikpunkt an Prokop gewesen.

Insgesamt wirkt die Situation der deutschen Handballer der der Fußballer 2023 nicht unähnlich. Tristesse soweit das Auge reicht. Besonders alarmierend waren die Auftritte beim Euro Cup im März und April, als es drei deftige Klatschen gegen Dänemark (23:30 und 21:28) und Schweden (23:32) bei einem Sieg gegen Spanien (32:31) setzte. Erst durch drei Siege in Folge vor EM-Beginn gegen Ägypten (28:27) und Portugal (34:33 und 35:31) entspannte sich die Situation.

Die These, Prokop wäre im Frühjahr angesichts der bevorstehenden, erstmals überhaupt auf deutschem Boden ausgetragenen Europameisterschaft bei ähnlichen Ergebnissen medial in der Luft zerrissen worden, klingt nicht besonders gewagt.

Personalie Gislason: Pikante Enthüllungen sorgen für Ärger

Gislason erhielt derweil vor allem aus der Bundesliga Gegenwind. Wenige Wochen vor der harten, aber nicht von der Hand zu weisenden Hanning-Kritik, hatte bereits ein im Spiegel unter dem Titel "So spaltet die Gislason-Frage den deutschen Handball" veröffentlichter Artikel für Ärger gesorgt.

In der Bundesliga würde sich "eine Front" gegen den Bundestrainer bilden, hieß es in dem Bericht. Als federführende Person wurde dabei Karsten Günther, Geschäftsführer der SC DHfK Leipzig und HBL-Präsidiumsmitglied, genannt. Es soll sogar die sofortige Ablösung Gislasons gefordert worden sein.

Günther dementierte anschließend nicht wirklich den Inhalt, sondern zeigte sich irritiert, dass seine internen Aussagen an die Presse weitergegeben wurden. "Dass vertrauliche Infos im Spiegel landen, hat mich sehr überrascht und hilft genauso wenig weiter wie öffentliche Zurechtweisungen", hatte der 42-Jährige gegenüber handball-world erklärt.

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DHB-Präsident Andreas Michelmann reagiert wütend

Außerdem untermauerte der Leipzig-Boss seine Haltung in der Bild: "Wir brauchen eine super intensive Abwehr, brutales Tempospiel, unkonventionelle Lösungen im Angriff und brutalen Rückzug, damit du auch die großen Nationen mit Kreativität überraschen und Intensität attackieren kannst. Das fehlt mir gerade komplett und ich frage mich, wo das bis 2024 herkommen soll. In der aktuellen Konstellation brauchen wir viel Glück und ein kleines bisschen Hilfe von ganz oben."

Günther tadelte obendrein die Zusammenarbeit zwischen DHB und HBL: "Wir brauchen mehr konstruktiven, kritischen Umgang miteinander, um kontinuierlich die letzten Prozente herauszukitzeln. Derzeit ist die Nationalmannschaft ein Satellit, der alle sechs Wochen mal auftaucht und dann wieder weg ist. Sie ist als Aushängeschild unserer Sportart die wichtigste Handballmannschaft des Landes und die einzige ohne echten Manager der oder die rund um die Uhr ihre Entwicklung und Belange sowie den Trainer im Blick hat. Auch hier gibt es dringenden Optimierungsbedarf."

Mit "öffentlichen Zurechtweisungen" meinte Günther die Kritik von DHB-Präsident Andreas Michelmann, der wütend auf die Aussagen reagiert hatte. Der 64-Jährige bezeichnete die aufkommende Kritik an Gislason als "Kaspertheater" und empfahl Günther, sich nicht in die Belange des Deutschen Handballbundes einzumischen und sich sattdessen "einen riesengroßen Besen" zu kaufen, um "erst einmal vor der eigenen Tür" zu kehren. Michelmann spielte damit auf die maue vergangene Saison der Leipziger (Platz 11) inklusive eines Trainerwechsels an.

Milde mediale Kritik wegen Alfred Gislasons Standing

Abgesehen davon fiel die öffentliche Kritik am Mann aus dem Norden Islands vergleichsweise zurückhaltend aus. Ein Grund ist natürlich Gislasons in den Vor-Bundestrainer-Jahren erarbeitetes Standing. Sieben deutsche Meisterschaften, sechs Pokalsiege und drei Champions-League-Triumphe als Trainer des SC Magdeburg und beim THW Kiel sprechen für sich. Kein anderer Coach hat in der Königsklasse mit zwei verschiedenen Klubs triumphiert.

Auch der Hinweis, der Job als Klub-Trainer unterscheide sich doch gehörig von der Aufgabe eines Bundestrainers, zieht bei Gislason nicht wirklich. Schließlich trainierte er von 2006 bis 2008 parallel den VfL Gummersbach und die isländische Nationalmannschaft.

Obendrein dürfte so manchem, der sich mit einem Trainerwechsel beim DHB beschäftigt, der folgende Gedanke durch den Kopf schießen: "Wenn es eine Koryphäe wie Gislason nicht hinbekommt, wer denn bitte dann?"

DHB-Probleme: Corona, Absagen - und ein neuer Realismus?

Die Umstände, mit denen Gislason in der ersten Zeit nach seinem Amtsantritt zu kämpfen hatte, waren außerdem äußerst kompliziert. Neben zahlreichen Absagen bei den vergangenen Turnieren wurde die WM 2021 aufgrund der Coronasituation und der Sturheit des Weltverbandes IHF zum Fiasko.

Die EM 2022 war nicht besser. Corona schlug erbarmungslos zu, Gislason musste irgendwann eine quasi neue Mannschaft auf die Platte schicken mit Spielern, die zu Turnierstart nicht einmal mit angereist waren. Der Rest befand sich in Isolation im Hotel.

Zu guter Letzt dürfte bei einigen die Erkenntnis und der Realismus Einzug erhalten haben, dass das Niveau der deutschen Nationalmannschaft in den vergangenen Jahren schlicht überschätzt wurde. Eine Medaille gab es zuletzt vor siebeneinhalb Jahren, als unter Dagur Sigurdsson bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro Bronze heraussprang.

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Deutschland gehört nicht zu den Top-4-Nationen

Eine deutsche Handball-Nationalmannschaft müsse bei großen Turnieren immer das Ziel Halbfinale haben, ist so ein Satz, der vor einem Großereignis trotzdem häufig fällt. Man muss sich beim Blick auf die vergangenen Ergebnisse allerdings fragen, ob dieses Anspruchsdenken noch zeitgemäß ist. Wirft man Olympia, WM und EM in einen Topf, hat die DHB-Auswahl seit dem WM-Triumph 2007 nämlich bei gerade einmal vier von 20 Turnieren dieses Ziel erreicht.

Im gleichen Zeitraum waren die anderen großen Handball-Nationen wie Frankreich (16 Mal mindestens im Halbfinale), Dänemark, Spanien (jeweils 13 Mal) und Schweden (6 Mal) teilweise deutlich erfolgreicher. Selbst Norwegen (4 Mal) liegt mit dem DHB-Team gleichauf.

Ob es deshalb gut war, auch für die EM 2024 die Runde der letzten Vier als Ziel auszugeben oder ob es nicht schlauer gewesen wäre, ein wenig auf Understatement zu machen und aus der Außenseiterrolle heraus mit etwas weniger Druck zu agieren, darüber lässt sich vortrefflich streiten. Der DHB hat sich jedenfalls für die erste Variante entschieden.

Kretzschmar über Gislason: "Ein bisschen zaubern"

"Wir wollen sportlich erfolgreich sein. Das heißt: Einzug ins Halbfinale", stellte DHB-Präsident Andreas Michelmann bereits im Oktober klar. Kapitän Johannes Golla meinte neulich: "Ich hoffe, dass wir eine gute Vorrunde spielen und auf jeden Fall bis zum Schluss der Hauptrunde die Chance haben, ins Halbfinale einzuziehen. Wenn wir in Köln sind und eine Euphorie entfachen können, dann wollen wir den Schritt in Richtung Halbfinale auch gehen."

Stefan Kretzschmars vor einiger Zeit im ZDF-Sportstudio getätigte Einschätzung erscheint aktuell realistischer. "Wir haben gute Spieler in unseren Reihen, die tatsächlich auch das große Ziel Halbfinale erreichen könnten", sagte der frühere Nationalspieler und schränkte ein: "Wir sind aber nicht in der Position, in der wir das ausrufen sollten als Ziel. Das wäre etwas vermessen." Gislason müsse "schon auch ein bisschen zaubern".

Die Zeit der öffentlich geäußerten Kritik ist freilich vorerst vorbei. Was bleibt dem deutschen Handball auch anderes übrig, als alle Kräfte für eine erfolgreiche Heim-EM zu bündeln.

Auch die Aussagen von Hanning ("Unsere Mannschaft ist ein Hingucker und macht richtig Freude") klingen aktuell ganz anders als noch im Mai. Doch Gislason, dessen Vertrag beim DHB bis zu den Olympischen Spielen in Paris läuft und der gerne darüber hinaus weitermachen möchte, weiß, dass sich der Wind ganz schnell wieder drehen kann.

Ein Sieg gegen Nordmazedonien am Sonntag (20.30 Uhr im LIVETICKER) würde sehr wahrscheinlich den vorzeitigen Einzug in die Hauptrunde bedeuten. Mehr als die absolute Pflichtaufgabe wäre damit allerdings noch nicht erledigt.

Handball-EM: Gruppe A im Überblick

PlatzTeamSpieleTorePunkte
1.Deutschland127:142
2.Frankreich139:292
3.Nordmazedonien129:390
4.Schweiz114:270
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