Ins Zentrum genervt

Wie Joshua Kimmich zum Anführer einer Generation wurde

Da standen sie also: Manuel Neuer, Thomas Müller, Robert Lewandowski und all die anderen auch. Aufgereiht, Arm in Arm, die Blicke auf die leeren Ränge des Berliner Olympiastadions gerichtet, und sie warteten. Sie warteten auf ihren Einpeitscher. Irgendwann kam er dann heranmarschiert, der kleine Joshua Kimmich mit seinen großen Schritten. Vor seinen hochgewachseneren und breiteren, vor seinen älteren und erfahreneren Kollegen angekommen, begann er zu hüpfen und hüpfte an allen vorbei, den rechten Arm von oben nach unten schmetternd und wieder nach oben und seine Kollegen, sie hüpften im Takt mit.

Es war der 4. Juli 2020, der FC Bayern hatte gerade das DFB-Pokal-Finale gegen Bayer 04 Leverkusen mit 4:2 gewonnen, das nationale Double perfekt gemacht und somit die Chance auf das Triple gewahrt. Als prägender Spieler des Spiels hatte sich Kimmich die Rolle des Einpeitschers verdient: Er dominierte das Mittelfeld mit ständiger Präsenz und Anspielbereitschaft, mit robustem Zweikampfverhalten und genialen Pässen wie jenem auf Serge Gnabry vor dessen Treffer zum 2:0.

Dieses DFB-Pokal-Finale war die vorläufige Krönung einer Saison, die nach Jahren als Rechtsverteidiger Kimmichs finalen Durchbruch als Mittelfeldspieler bedeutete. Seine Lieblingsposition. Und damit einhergehend der Durchbruch zum unumstrittenen Führungsspieler. Seine Lieblingsrolle. Kimmich ist beim FC Bayern in jeglicher Hinsicht im Zentrum angekommen - SPOX und Goal sprachen mit etlichen Weggefährten und zeichnen seinen Weg dahin nach.

Die ausstehenden Champions-League-Spiele könnten wegen des verletzungsbedingten Ausfalls von Benjamin Pavard Kimmichs vorläufige Abschiedsauftritte rechts hinten werden. Am Samstag (21 Uhr im LIVETICKER) steigt das Achtelfinal-Rückspiel gegen den FC Chelsea.

Die Anfänge beim
VfB Stuttgart

bis 2013

Kimmichs Weg auf seine Lieblingsposition und in seine Lieblingsrolle beim besten Klub des Landes begann im 3.500-Einwohner Städtchen Bösingen. Baden-Württemberg, irgendwo zwischen Stuttgart und Freiburg. Als Kind schuf er sich mit Freunden auf einer Wiese einen eigenen kleinen Fußballplatz, später spielte er beim örtlichen VfB Bösingen auf einem richtigen. Mindestens genau so sehr wie um den Spaß ging es Kimmich schon damals um den Sieg. Wenn er verlor, dann tobte er oft und schrie und manchmal heulte er auch.

Nach dem vielleicht wichtigsten Spiel mit seiner Mannschaft musste er aber weder toben noch schreien und auch nicht heulen. Das gewann er 2007 mit seinem kleinen VfB gegen den großen VfB aus der Landeshauptstadt Stuttgart. Dort waren sie so begeistert vom damals 12-jährigen Kimmich, dass sie ihn von einem Wechsel überzeugten. Zwei Jahre lang fuhr ihn sein Vater daraufhin für Trainingseinheiten und Spiele nach Stuttgart, mit 14 zog er schließlich ins Internat. Vom Elternhaus in die Selbstständigkeit. Kimmich wurde erwachsen, sein Kopf jedoch schneller als sein Körper.

Fußballerisch war Kimmich seit Kindestagen über alle Zweifel erhaben, aber während seine Mitspieler größer und breiter wurden, blieb er klein und schmal. 2010 veranstaltete der DFB erste Sichtungslehrgänge für die talentiertesten Spieler des Jahrgangs 1995, um die neue U16-Nationalmannschaft zusammenzustellen. Niklas Süle, Leon Goretzka und Serge Gnabry wurden alle nominiert, Kimmich nicht. Zu klein und zu schmal fand ihn auch der damalige U16-Nationaltrainer Stefan Böger, wie er im Gespräch mit SPOX und Goal erzählt.

Es war nicht das erste und schon gar nicht das letzte Mal, dass Kimmich im Laufe seiner Teenagerzeit von Trainern mit seiner langsameren körperlichen Entwicklung konfrontiert wurde. Sie war oft der Vorwand, ihm nicht mehr zuzutrauen, und das ärgerte ihn. Dieser Ärger resultierte jedoch nicht in Verzweiflung, sondern in einem immer ausgeprägteren Willen, sich in den Bereichen zu verbessern, die in seiner Macht standen. Er konnte seinen Körper nicht zwingen, zu wachsen. Aber er konnte seinen Kopf mit Taktikwissen füllen und seine Füße mit Ballkontrolle aufpolieren. "Aufgefallen ist er mit toller Technik und seinem super Spielverständnis", sagt Böger. "Und vielleicht am wichtigsten: mit seiner vorbildlichen Mentalität und Lernwilligkeit." Es sollte ein wiederkehrendes Muster werden.

"Ich erinnere mich an einen aufgeweckten Jungen. Klug, neugierig und sehr interessiert an allen fußballspezifischen Fragen: 'Trainer, warum ist das so und so? Trainer, warum soll ich das so und so machen?' Diese und ähnliche Fragen habe ich ihm gerne beantwortet. Er hat Aufgaben nicht wie die meisten anderen abgearbeitet, sondern sich damit wirklich beschäftigt. Deshalb hat es immer besonders viel Spaß gemacht, mit Jo zu arbeiten", sagt Böger.

Schon in jungen Jahren wollte Kimmich Zusammenhänge verstehen. Er achtete stets auf das große Ganze und gleichzeitig auf jede Kleinigkeit. Wenn er seine Kollegen damit nervte, dann nervte er sie eben. Im Stuttgarter Internat schuf er sich sogar ein kleines Vermächtnis: Bis heute soll es die sogenannte Kimmich-Regel geben, wonach bei Handykonsum während des gemeinsamen Essens eine Geldstrafe fällig ist. Kommunikation und dabei vor allem für seine Ansichten einzustehen, war ihm schon immer wichtig – notfalls über den Weg der offenen Konfrontation.

"Er drückte sich nie davor, seine Meinung zu sagen", erinnert sich sein ehemaliger Stuttgarter U19-Trainer Ilija Aracic im Gespräch mit SPOX und Goal. "Es gibt Spieler, die nur Fußball spielen, und es gibt welche, die sich darüber Gedanken machen und diese dann auch ansprechen. Jo wollte immer mehr wissen, immer mehr lernen und konnte alles schnell aufnehmen und umsetzen." Weiter, weiter, immer mehr und mehr. In seiner ersten Saison bei der U17 war Kimmich meist nur Ergänzungsspieler, zur zweiten erkämpfte er sich einen Stammplatz und nach dem Sprung zur U19 war Kimmich im zentralen Mittelfeld gesetzt. Doch auch das reichte ihm nicht.

Kimmich führte die Mannschaft um Stürmer Timo Werner in der A-Jugend-Bundesliga Süd/Südwest auf Platz zwei, nur knapp hinter dem FC Bayern München. Unterdessen schloss er sein Abitur mit der Note 1,7 ab.

Nach seiner ersten A-Jugend-Bundesligasaison erachtete er sich mit 18 Jahren bereit für den Sprung zur Profi-, oder wenigstens zur Reserve-Mannschaft – aber die Stuttgarter Verantwortungsträger sahen das anders. "Sie waren der Meinung, dass ich damals körperlich noch nicht reif genug war", erzählte Kimmich vor einiger Zeit im Interview mit SPOX und Goal. Stattdessen sollte er ein weiteres Jahr gegen einen jüngeren Jahrgang in der A-Jugend spielen. Das passte nicht zu seinem Selbstverständnis und deshalb zog er weiter.

Als er ging, tat er das, was er auch zu Zeiten seiner Ankunft gerne tat: Kimmich heulte. Diesmal jedoch nicht aus Wut, sondern aus Verbundenheit. "Vor seinem Abschied kam er nochmal zu mir und so habe ich gesehen, wie nahe ihm das geht", erinnert sich Aracic. "Da hat er Tränchen gelassen."

Der Durchbruch bei
RB Leipzig

2013 - 2015

Für 500.000 Euro und eine inkludierte Rückkaufoption in Höhe von 1,5 Millionen Euro wechselte Kimmich im Sommer 2013 zu RB Leipzig. Zu einem Klub, dessen damalige Lebenslage sich mit seiner eigenen deckte: Jung und auf dem steilen Weg nach oben. Unter Trainer Alexander Zorniger war Leipzig gerade in die 3. Liga aufgestiegen und nicht gekommen, um zu bleiben. So schnell wie möglich sollte der nächste Aufstieg folgen.

Dass Spieler und Klub zusammenfinden, war also einerseits logisch, andererseits aber auch purer Zufall. Zorniger war in der Saison zuvor mit anderen Absichten auf Scouting-Mission zu einem Spiel der Stuttgarter A-Jugend gegen den 1. FC Nürnberg gereist, erinnert er sich im Gespräch mit SPOX und Goal.

Erst später erfuhr Zorniger, dass Kimmich damals unter starken Schmerzen spielte. Seit über drei Jahren plagte ihn eine Schambeinverletzung, mal mehr und mal weniger akut. Doch er versuchte, sie zu ignorieren und einfach weiterzuspielen. Pause konnte er nicht, konnte er noch nie. Der Wille war größer als der Schmerz, langsam aber kam die Angst dazu, nie mehr schmerzfrei spielen zu können. In Leipzig ließen sie Kimmich nach seinem Wechsel dann keine Wahl mehr: Er durfte erst wieder spielen, als die Verletzung voll auskuriert war. Nach rund drei Monaten war es so weit.

Ende September 2013 wechselte ihn Zorniger gegen die SpVgg Unterhaching erstmals ein, sein Profidebüt. Eine Woche später stand ein Auswärtsspiel beim souveränen Tabellenführer 1. FC Heidenheim auf dem Programm. Ein richtungsweisendes Spiel für das damals fünftplatzierte Leipzig.

Nebel lag in der Luft, am Vormittag hatte es noch geregnet. Unwirtliche Verhältnisse bei einem unangenehmen Gegner. Seit fast einem Jahr hatte Heidenheim kein Heimspiel mehr verloren. "Festung Albstadion Heidenheim uneinnehmbar", stand auf einem riesigen Spruchband im Heidenheim-Block, als die 22 Spieler einliefen. Einer davon: Kimmich. Beim bis dahin wichtigsten Spiel der Saison vertraute Zorniger statt dem mit seinen 28 Jahren erfahrenen Bastian Schulz dem zehn Jahre jüngeren Kimmich. Und der dankte es mit einer starken Leistung. Gemeinsam mit Dominik Kaiser sei er beim 2:0-Sieg das "spielbestimmende Element" gewesen, fand Zorniger. "Bei der Rückfahrt ist Basti Schulz zu mir gekommen und hat gesagt: 'Trainer, das war die richtige Entscheidung.'" Fortan hatte Kimmich seinen Stammplatz sicher.

Auch abseits des Platzes kam Kimmich in Leipzig immer besser an und schuf sich ein lebenswertes Umfeld. Er lernte seine Freundin Lina Meyer kennen, mit der er mittlerweile ein Kind hat, und übersiedelte vom Hotel in eine WG mit Mitspieler Yussuf Poulsen, der im selben Sommer nach Leipzig gewechselt war. "Jo war viel professioneller als ich, immer nach dem Motto: Ordnung muss sein. Dahingehend habe ich viel von ihm gelernt", erinnert sich Poulsen bei SPOX und Goal. Aber das Lernen beruhte auf Gegenseitigkeit, laut Zorniger profitierte wohl auch der verbissene Deutsche vom lockeren Dänen: "Vielleicht hat Jo dieser entspannte Kontrapunkt in seiner Entwicklung ganz gutgetan."

Bei seiner körperlichen Entwicklung half Kimmich unterdessen der ehemalige Weltklasse-Stabhochspringer Tim Lobinger, der in Leipzig damals als Athletik-Trainer fungierte. Immer noch angetrieben von den Abweisungen aus seiner Jugendzeit in Stuttgart schuftete Kimmich mit Lobinger bei zahlreichen Individualeinheiten. In Leipzig wurde er auch körperlich erwachsen.

"Stillstand ist das Schlimmste für ihn. Jo trainiert in jeder Einheit wie andere nur in kompletten Krisenzeiten. Er dreht wirklich jeden Stein um, weil er immer wissen will, wo er sich noch verbessern kann", sagt Lobinger im Interview mit SPOX und Goal. "Mit Jo kannst du in die Schlacht ziehen und sie gewinnen. Er ist kein Verstecker. Er ist ein Sich-Zeiger." Zwischen den beiden entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, die ihre gemeinsame Zeit in Leipzig überdauerte: Auch später in München trainierten sie gemeinsam individuell. Als Lobinger an Leukämie erkrankte, besuchte ihn Kimmich im Krankenhaus.

Wie schon in Stuttgart wollte Kimmich auch in Leipzig von Beginn an mehr sein als nur Stammspieler. Auch hier brach sein Streben nach einer Führungsrolle durch – mit dem Unterschied, dass die zu führenden Mitspieler nicht gleichaltrig waren, sondern älter und erfahrener. Profis eben. Kimmich aber interessierte das kaum. "Er hat einen ganz brutalen Führungsanspruch an sich selbst. Wenn er mit einem Mitspieler nicht zufrieden war, dann hat er ihn das schon auch mal spüren lassen und da war es ihm egal, ob das ein gestandener Spieler oder ein Talent war", erinnert sich Zorniger. "Er konnte richtig pampig gegenüber Kollegen werden."

Kimmich ging es dabei nicht um eine Inszenierung, sondern nur um die Sache an sich und das wussten seine Mitspieler wertzuschätzen. "Obwohl er eine anstrengende Art hatte, haben seine Kollegen sofort gemerkt, was er damit bewirkt. Ich glaube, er war von Beginn an sehr beliebt in der Mannschaft", sagt Zorniger.

Nach dem Aufstieg in die 2. Bundesliga in Kimmichs erster Saison in Leipzig verpflichtete der Klub Terrence Boyd als bis dahin teuersten Spieler der Klubgeschichte. In der Jugend hatte er für Borussia Dortmund gespielt, mit Rapid Wien im Europapokal und jetzt bekam er Anweisungen vom 19-jährigen Kimmich. "Es war nie der Fall, dass ich gedacht hätte: 'Komm, was ist denn jetzt mit dir los?'", sagt Boyd zu SPOX und Goal. "Er hat gespielt wie ein Führungsspieler, ist vorangegangen und hat dich mitgezogen. Er ist ein Spieler, den jeder in seiner Mannschaft haben möchte."

Die zwei Jahren in Leipzig brachten Kimmich körperlich weiter und gaben ihm die Gewissheit, dass er auch im Profifußball Führungsspieler sein kann. Außerdem wurde er mit einer neuen, ungewohnten Spielweise konfrontiert: Während er in der Stuttgarter Jugend einen dominanten Ballbesitz-Fußball gespielt hatte, war es in Leipzig ein rasanter Überfalls-Fußball. "Die Umstellung in Sachen Training vom VfB zu uns war für ihn mental nicht ganz einfach, weil das zwei verschiedene Welten waren", erklärt Zorniger.

So lernte Kimmich schon in jungen Jahren die beiden gegensätzlichsten Spielideen kennen. Klar war aber auch damals schon, dass der dominante Ballbesitz-Fußball besser zu ihm und seinem Selbstverständnis passt. Einen Fußball, wie ihn Trainer Pep Guardiola beim FC Bayern spielen ließ.

Erstmals beobachtete Guardiola Kimmich bei einem Leipziger Auswärtsspiel beim TSV 1860 München – und er war sofort begeistert: sauberes Passspiel, unbändiger Ehrgeiz, aber immer noch formbar. Für einen Trainer wie Guardiola ein Geschenk. Genau wie Kimmichs Wechsel nach Leipzig zwei Jahre zuvor ein logischer Schritt gewesen ist, war es jetzt auch sein Wechsel nach München.

Kimmich beendete die Zweitligasaison mit Leipzig auf Platz fünf, anschließend zog Stuttgart die Rückkaufoption in Höhe von 1,5 Millionen Euro und verkaufte ihn für 8,5 Millionen Euro an den FC Bayern. Nach einer Saison A-Jugend-Bundesliga, einer Saison 3. Liga und einer Saison 2. Bundesliga war Kimmich mit nun 20 Jahren in der Bundesliga angekommen.

Der Weg ins Zentrum beim FC Bayern München

seit 2015

Trainingsauftakt beim FC Bayern im Sommer 2015, Triple-Gewinner und Weltmeister überall und dazu ein neu verpflichtetes Talent. Jan Kirchhoff kannte diese Situation bestens: Er war zwei Jahre zuvor in ähnlicher Rolle vom FSV Mainz 05 zum FC Bayern gewechselt. In diesem Sommer war Kirchhoff gerade von einer Leihe vom FC Schalke 04 zurückgekehrt und somit bei Kimmichs erster Trainingseinheit dabei. Seine Erinnerungen sind auch fünf Jahre später noch frisch. "Natürlich hat mich auch sein fußballerisches Talent beeindruckt, viel mehr aber noch seine generelle Herangehensweise", sagt Kirchhoff zu SPOX und Goal.

Thiago und Kimmich. Jahre später sollten sie gemeinsam das Mittelfeld des FC Bayern bilden, schon damals waren sie Guardiolas Lieblingsschüler. "Guardiola hat von Beginn an etwas Besonderes in Jo gesehen und ihm deswegen besonders viel Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet. Er wollte immer mehr und noch mehr aus ihm herauskitzeln", erinnert sich Kirchhoff.

Spieler und Trainer genossen die gemeinsame Arbeit, weil sie ähnlich besessen nach Perfektion streben und dieses Streben offen ausleben. Nie war das schöner und gleichzeitig beängstigender zu sehen als im März 2016, der FC Bayern hatte durch ein 0:0 bei Borussia Dortmund gerade die Tabellenführung abgesichert.

Abpfiff. Und dann stürmte Guardiola vor über 80.000 Zuschauern unter dem Flutlicht des Signal Iduna Parks los Richtung Mittelkreis. Sein Ziel: Kimmich, den er als Innenverteidiger aufgeboten hatte. Irgendwann stand er vor ihm. Guardiolas Hände flogen wild durch die Gegend, er redete und redete auf ihn ein, umarmte ihn, presste seine Stirn gegen Kimmichs und redet immerzu weiter. Ein Positiv-Negativer-Gefühlsmix war das: Guardiola lobte Kimmich für dessen Interpretation der für ihn ungewohnten Rolle und kritisierte ihn gleichzeitig für das Missachten einer taktischen Anweisung, wie er später berichtete.

"Ihm ist etwas aufgefallen, dann musste er das auch direkt rüberbringen. Er konnte da nicht einen Tag warten", sagte Kimmich später zu SPOX und Goal. "Es ist ja auch am besten, wenn du diese Situation hast und er dich sofort verbessert." Er selbst hätte umgekehrt wohl identisch gehandelt: Am besten alles direkt und klar ansprechen. Kimmich und Guardiola ticken ähnlich. "Ich liebe diesen Jungen", sagte Guardiola nach dem Spiel. "Er kann überall spielen."

Zunächst hatte Guardiola Kimmich meist als Mittelfeldspieler eingewechselt. Als zur Rückrunde aber ein Defensivspieler nach dem anderen ausfiel, funktionierte er ihn trotz seiner Körpergröße von nur 1,76 Metern zum Innenverteidiger um. Bei der folgenden Europameisterschaft in Frankreich erarbeitete sich Kimmich unter Bundestrainer Joachim Löw einen Stammplatz als Rechtsverteidiger und schaffte es dort sogar ins Team des Turniers.

Mittelfeld, Innenverteidigung, Rechtsverteidigung: Kimmich spielte mal hier und mal dort, sah das zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere aber nicht als Einschränkung, sondern als Chance. Wie er in Leipzig den Fußball ganz generell aus einer anderen Perspektive kennengelernt hatte, so lernte er das Spiel nun aus verschiedenen positionellen Blickwinkeln kennen. In seiner zweiten Saison beim FC Bayern pendelte er zwischen Mittelfeld, Verteidigung und der Bank. Ab dem Sommer 2017 hatte er seinen Stammplatz als Rechtsverteidiger sicher.

Neue Blickwinkel will Kimmich seit jeher auch abseits des Fußballs kennenlernen. Satt an der Konsole zu zocken, nutzt er seine Zeit lieber gehaltvoller. Irgendwann begann er beispielsweise, Spanisch zu lernen, auch um mit den etlichen spanischsprachigen Spielern in der Mannschaft besser kommunizieren zu können. Knapp zwei Jahre lang zog er das durch. Im Zuge der Corona-Krise gründete er mit seinem Kollegen Leon Goretzka die Initiative "We Kick Corona" und sammelte auf diesem Weg schon über fünf Millionen Euro an Spendengeldern für soziale Zwecke.

Wenn Kimmich etwas macht, dann macht er es richtig. Genau wie bei Freizeit-Tennisspielen, die er laut eines regelmäßigen Spielpartners nicht mit einer Freizeit-Tennisspiel-Mentalität angeht, sondern mit absolutem Siegeswillen. Dieser Ehrgeiz ist nicht aus Kimmich herauszubekommen. Egal, ob in der Freizeit oder im Job, egal, ob im Training oder im Spiel. Für Mitspieler kann das zehrend sein, wie Kirchhoff berichtet.

Wie in Stuttgart und Leipzig wollte Kimmich auch beim FC Bayern von Beginn an nicht nur Stamm-, sondern auch Führungsspieler sein. Es gibt viele schöne Anekdoten, die dieses Streben unterstreichen. Im Sommer 2017 wechselte Kimmichs Jahrgangs-Kollege Niklas Süle zum FC Bayern und als er es beim ersten Mannschaftstraining etwas lockerer angehen ließ, soll ihm Kimmich lautstark zugerufen haben: "Niki, vielleicht so ein bisschen mehr bewegen?" Wie ein "strenger Papa" sei Kimmich, findet der gleichaltrige Süle. Serge Gnabry erzählte einmal, dass Kimmich ihm und anderen Kollegen nach Spielen gerne WhatsApp-Nachrichten mit Leistungsbewertungen und Verbesserungstipps zuschickt.

In der deutschen U16-Nationalmannschaft musste Kimmich wegen seiner langsameren körperlichen Entwicklung Altersgenossen wie Süle oder Gnabry den Vortritt lassen. Bis zur U19 spielte Kimmich in keiner U-Nationalmannschaft eine prägende Rolle, im Erwachsenenalter wurde er aber unersetzlich. Der Schritt zum Stammspieler unter Löw gelang ihm vor seinen Altersgenossen, mittlerweile coacht er sie und tritt als Anführer seiner Generation auf.

Bereits mit 22 Jahren durfte Kimmich erstmals kurzzeitig die Kapitänsbinde der Nationalmannschaft tragen – und damit deutlich früher als einst die späteren Weltmeister-Kapitäne Fritz Walter, Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus und Philipp Lahm. Kimmich ist auf dem besten Weg, Teil dieser Ahnengalerie zu werden: Er gilt als designierter Kapitäns-Nachfolger von Manuel Neuer, sowohl in der Nationalmannschaft als auch beim FC Bayern.

Je wichtiger seine sportliche Rolle in den vergangenen Jahren wurde, desto regelmäßiger und meinungsstärker wurden auch seine öffentlichen Wortmeldungen. Bei Sieg und Niederlage stellt sich Kimmich nach Abpfiff in der Mixed Zone regelmäßig wie kaum ein anderer den Fragen der Journalisten und man spürt förmlich, wie wohl er sich dabei fühlt. Aufrechte Haltung, steter Blickkontakt mit dem Fragesteller, hin und wieder ein Blitzen in den Augen, bedachte Rhetorik. Ganz egal, ob die geäußerte Meinung kontrovers ist oder nicht. Ganz egal, ob sie sich gegen Vorgesetzte richtet oder nicht.

So kritisierte Kimmich etwa Löw für dessen Umgang mit den ausgebooteten Nationalspielern Jerome Boateng, Mats Hummels und Thomas Müller. Und Uli Hoeneß für dessen Wortmeldung zum Torwartduell zwischen Manuel Neuer und Marc-Andre ter Stegen in der Nationalmannschaft.

Nachdem der FC Bayern im September vergangenen Jahres mit einem 3:2-Sieg gegen den SC Paderborn die Bundesliga-Tabellenführung erobert hatte, sah Kimmich den Zeitpunkt für seine erste öffentlichkeitswirksame Generalkritik gekommen: "Man muss feststellen, dass wir es in dieser Saison noch nicht geschafft haben, ein Spiel über 90 Minuten dominant zu bestreiten. Auch die letzten Spiele, die wir deutlich gewonnen haben, waren nicht in der Art und Weise, wie wir uns das vorstellen." Vielleicht besser: Wie er sich das vorstellt.

Der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge und Sportdirektor Hasan Salihamidzic riefen ihn anschließend zur Mäßigung auf und forderten gleichzeitig eine sportliche Reaktion von ihm ein. Der FC Bayern jedenfalls gewann das darauffolgende Spiel in der Champions League gegen Tottenham Hotspur mit 7:2, auch dank Kimmichs wichtigem Tor zum zwischenzeitlichen 1:1. "Ich würde es in der Art und Weise wieder so tun, weil es einfach meine Meinung ist", sagte er danach über seine Kritik. Und übrigens: "Auch gegen Tottenham war nicht alles super." Ob er sich künftig zurückhaltender äußern werde? "Mich verbiegt keiner."

Dass beim FC Bayern damals nicht alles super war, sahen bald auch die Verantwortungsträger ein. Wenige Wochen später trennte sich der Klub von Trainer Niko Kovac und ersetzte ihn durch Hansi Flick. Er betrachtete Kimmich von Beginn an als entscheidendes Element seines Spiels und machte ihn wie Löw bereits zuvor in der Nationalmannschaft auch im Klub zum Stammspieler im zentralen Mittelfeld.

"Ich habe das Gefühl, dass man im Mittelfeld näher dran ist an den Mitspielern und mehr Einfluss aufs Geschehen nehmen kann", findet Kimmich. Und das ist fast schon als Drohung zu verstehen. Seit Kimmichs Wechsel zum FC Bayern 2015 hat er nicht nur fünf Meistertitel und drei DFB-Pokale gewonnen. Er hatte auch mehr Einfluss auf das Spielgeschehen seines Klubs als jeder andere. 12.515 Mal berührte Kimmich seitdem in der Bundesliga den Ball und damit fast 500 Mal öfter als der ligaweit zweitplatzierte Mats Hummels.

Durch seine positionelle Versetzung ins Mittelfeld wurde sein Einfluss auf das Spiel des FC Bayern in dieser Saison noch größer, als er ohnehin schon war. Pässe kann er aus dem Zentrum genauso ideal verteilen wie Kommandos. Kimmich ist mittlerweile 25 Jahre alt und das, worauf sein ganzer Werdegang ausgelegt ist: Als Führungsspieler das zentrale Element im Spiel des besten Klubs des Landes.