Goldener Herbst mit Mitte 40:

WIE TOM BRADY SEINE STIMME FAND

Im Juni 2016, etwas mehr als ein Jahr nachdem Tom Brady seinen vierten Super Bowl gewonnen hatte, traf er bei einem Formel-1-Rennen Ex-Chelsea-Star Didier Drogba. Die beiden kamen ins Gespräch und Drogba wollte aus Brady herauskitzeln, wie lange er noch spielen will. Brady wich aus und antwortete mit Floskeln, doch der Ivorer ließ nicht locker - bis Brady schließlich eine Zahl nannte.

Sechs Titel, so viele wie Michael Jordan gewonnen hat. Das wäre doch ein Ziel. "Dann könnte ich als der Größte aller Zeiten abtreten", führte Brady weiter aus, wie er später der Sports Illustrated berichtete.

Drogba aber ließ selbst dann nicht locker: "Wenn du wirklich der Größte aller Zeiten sein willst, dann musst du sieben Titel anpeilen. Ansonsten bist du ja nur genauso gut wie MJ."

Sieben Ringe schienen selbst für Brady in jenem Sommer 2016 mehr Traum als realistisches Ziel. Doch schon die folgende Saison, gekrönt mit dem aberwitzigen Super-Bowl-Triumph über die Atlanta Falcons, war der Startschuss. Zwei Ringe würde er mit den Patriots noch gewinnen, ehe in Tampa Bay in der vergangenen Saison gleich im ersten Anlauf Ring Nummer 7 folgen sollte.

Bereits drei Jahre vor Bradys Gespräch mit Drogba hatte Sebastian Vollmer die Situation analysiert. Der deutsche Offensive Tackle hatte seinen Rookie-Vertrag in New England erfüllt und kam im Frühjahr 2013 als Free Agent auf den Markt. Letztlich einigte er sich mit den Patriots auf einen neuen Vierjahresvertrag - aber kurz nachgedacht habe er schon, wie Vollmer im Gespräch mit SPOX zugibt.

"Ich weiß noch", erzählt Vollmer, "als ich meinen zweiten Vertrag bei den Patriots unterschrieben habe - ich wollte gewinnen, und die Aura Brady zieht eben auch Talente an, wo ich mir dann gedacht habe: Ich bleibe in Foxboro, weil ich weiß, dass ich hier einen Super Bowl gewinnen kann, was dann ja auch so kam. Da war Tom Mitte 30 und da denkst du auch: Kommt jetzt schon der Abstieg? Sollte ich doch woanders hingehen? Aber du siehst ihn ja auch! Und seit Jahren - gefühlt seit Jahrzehnten - sagen die Medien: Jetzt bricht er ein, das war’s. 2014 haben wir eine richtige Klatsche gegen Kansas City bekommen. 14:41. Und dann kam jemand wie Ex-QB Trent Dilfer und sagte auf ESPN, wie schlecht wir alle wären, dass Brady nicht mehr der Alte sei, das ganze Gerede. Das ist jetzt einfach sieben Jahre und vier Super Bowls her."

Was von außen bereits kaum mehr zu prognostizieren ist, empfinden auch ehemalige Weggefährten als Rätsel. Vollmer betont zwar, dass es nur das nackte Alter ist, das einen bei Brady zögern lässt, sagt aber auch: "Man kann es bei ihm nicht einschätzen."

Und die Skepsis komme letztlich eben daher, dass "andere Quarterbacks oder Spieler oder Sportler generell mit 44 diese Leistung nicht mehr abrufen konnten. Aber vielleicht ist er der Erste, der bis er 45 wird nochmal einen gewinnt."

"Er hat das Team. Er hat das Talent. Er geht in sein zweites Jahr in Tampa - ich kann es mir vorstellen."

LIEBE MOTIVIERT

Im zarten Alter von 44 Jahren wird Brady die kommende Saison bestreiten. Nicht wenige dachten damals, dass jener Sieg im Super Bowl gegen Atlanta der ideale Moment gewesen wäre, um abzutreten. Andere wiesen spätestens nach dem Triumph über die Rams im Februar 2019 darauf hin, dass er jetzt als erster Spieler überhaupt den sechsten Ring hatte und zudem mit 41 Jahren der älteste Quarterback der Geschichte war, der einen Super Bowl gewinnen konnte. "Was gibt es noch zu beweisen?", diese Frage schwang immer unterschwellig - und manchmal auch ganz offen - mit.

Diese Gedankenspiele sind nun auch schon wieder zweieinhalb Jahre her. Und so steht neben der physischen Frage auch ein anderer Aspekt längst im Raum: 

Was motiviert Tom Brady überhaupt noch?

Er hat alles gewonnen und das mehrfach, nun auch fernab von den Patriots und von Mastermind Bill Belichick. Er hat bereits alle Alters-Bestmarken deutlich nach oben geschoben. Nicht einmal Brady dürfte nach 21 Jahren noch das Feuer des spät gedrafteten Underdogs spüren, selbst Michael Jordan hat er mittlerweile ebenfalls überholt.

Und das ist es auch nicht. Sicher, sich selbst zu beweisen, zu was man noch in der Lage ist, auch mit einer weiteren Kerze auf dem Geburtstagskuchen, das ist und bleibt immer im Hinterkopf. Brady sprach darüber erst im Sommer in einem Interview. Aber es ist nicht der zentrale Antrieb, auch das hebt er regelmäßig hervor.

Im Frühjahr 2020 schrieb Brady in der Players Tribune einen Aufsatz, in welchem er sich von New England verabschiedete und über neue Ziele sprach - aber auch über die Dinge, die ihn antreiben: "Die Antwort ist einfach, ich liebe meinen Sport. Ich liebe, was ich tue. Ich will es so lange machen, bis ich es nicht mehr machen will. Football ist ein Teamsport, und die Chance, mit meinen Mitspielern zusammenzuarbeiten, war ein wesentlicher Aspekt, der mich ursprünglich für Football begeistert hat."

Wenn Vollmer über Brady spricht, dann erinnert er sich an einen Aspekt, in welchem diese Begeisterung für das Spiel in der täglichen Arbeit klar erkennbar ist: Es ist die Besessenheit, mit der Brady arbeitet. Alles wird dem Ziel Super Bowl untergeordnet, "das ist er für mich", fasst er Brady zusammen. Und hat dann noch eine interessante zusätzliche Perspektive: "Er trainiert anders. Aber er hat einen Weg gefunden, der für ihn hervorragend funktioniert."

Inwiefern anders?

"Alex Guerrero ist sein persönlicher Guru. Und es ist sein Programm. Das beinhaltet beispielsweise weniger Arbeit mit Gewichten. Es ist ein Programm, das für ihn hervorragend funktioniert." Auch mal "extrem" sei Brady zudem in seiner Ernährung, "mit seinen pH-Werten, er versucht, seine innerlichen pH-Werte in bestimmten Regionen zu halten, weil er dann glaubt, er funktioniert besser. Da ist er schon sehr spezifisch."

BESESSENHEIT

In der Kabine seien diese Dinge kein großes Thema gewesen, doch die Besessenheit bleibt unweigerlich präsent. 

"Er erwartet von sich selbst, aber auch von allen anderen, das absolut Beste", blickt Vollmer zurück, "und er weiß natürlich auch - nehmen wir mal einen Receiver, und er wirft den Ball genau auf Brusthöhe, aber der Receiver fängt den Ball nicht, dann bist du in dem Moment nicht gut genug. Wenn ich als Offensive Lineman vom Defensive End so weit nach hinten geschoben werde, dass ich ihm auf die Füße trete, das ist nicht gut genug."

Es sind diese Standards, die Brady setzt, Tag für Tag - für sich selbst, aber eben indirekt auch für jeden seiner Mitspieler. Denn wenn etwas nicht gut genug ist, lasse Brady das seine Teamkollegen auch wissen, "weil, ohne arrogant zu sein, weiß er eben auch: Gib mir die Zeit, fang den Ball, mach den Block richtig, laufe die Route richtig - und wir gewinnen! Wenn Brady auf dem Platz steht, und ich würde wetten, dann würde ich immer auf Brady setzen."

Diese Einstellung brachte Brady auch mit nach Tampa Bay. 

Zu Beginn des diesjährigen Training Camps im August hatten die Buccaneers eine Einheit, die von Unkonzentriertheiten und einfachen Fehlern geprägt war. 

Brady, der selbst einen relativ normalen Tag hatte, warf irgendwann seinen Helm wütend auf den Boden und puntete den Ball 30 Yards das Feld runter, nachdem seine Offense eine Serie ohne Punkte beendete. "Ihr müsst auch Plays machen, wenn ihr müde seid, Jungs!", rief Brady seinen Mitspielern noch zu.

Neben den physischen Aspekten und der Selbstdisziplin in der Hinsicht ist es, das sticht überdeutlich hervor, wenn man Weggefährten von Brady zuhört, vor allem Bradys Mentalität, die ihn auszeichnet - und die sich auch auf das Team überträgt. 

In der Pat McAfee Show sprach Tampa Bays Wide Receiver Chris Godwin über genau diesen Effekt: "Ich denke, der wichtigste Aspekt, den er mitbrachte, war die Mentalität, dass man erwartet, zu gewinnen - und nicht hofft, zu gewinnen. Wir hatten jahrelang talentierte Spieler, aber konnten das nie alles auf dem Platz zusammenbringen. Man geht in Spiele und sagt sich, ‘wir können das gewinnen.’ Aber eigentlich hofft man in erster Linie darauf. Dieses Jahr sind wir in jedes Spiel mit der Haltung gegangen: ‘Definitiv können wir dieses Spiel gewinnen, es gibt keinen Grund, warum nicht’. Als wir in den Playoffs waren, hatten wir keinen Zweifel daran, dass wir gewinnen würden."

Es ist schon eine Art natürliche Autorität, die Brady in den Huddle, aber auch in die tägliche Trainingsarbeit mitbringt. "Brady muss da nicht viel rumschreien, weil jeder weiß, wie gut er ist", erklärt Vollmer. "Du weißt, mit ihm kannst du gewinnen - und deswegen willst du nicht derjenige sein, der die Chance auf den Sieg vermasselt. Wenn ich als Offensive Lineman einen Sack zulasse, hätte es eben auch ein Touchdown-Pass werden können mit ihm."

Eine passende Anekdote dafür hat er ebenfalls parat: "Ein Beispiel aus dem Super Bowl gegen die Seahawks, den wir gewonnen haben. Da lagen wir zurück, er kommt in den Huddle für unseren letzten Drive und sagt: ‘Championship Drive. Hier gewinnen wir das.’ Und mehr muss nicht gesagt werden. Da schaust du ihn an und sagst dir: ‘Ja, mit ihm schon.’ Das Problem ist eben, wenn der Backup-Quarterback rein kommt - der auch ein guter Quarterback ist -, aber dann sagst du dir viel eher, ‘ist es wirklich so? Schauen wir mal.’ Bei Brady weißt du es."

Tampa Bays Head Coach Bruce Arians würde sowohl Vollmer als auch Godwin inhaltlich zweifellos zustimmen. Als er im Vorjahr um den Free Agent Brady warb, sagte er ihm, dass die Bucs mit ihm den Super Bowl gewinnen würden - das Team sei gut, es wisse es lediglich noch nicht.

"Tom weiß, was es braucht, um zu gewinnen", fasste es Linebacker Lavonte David im Sommer in der Rich Eisen Show zusammen. "Er hat das Selbstvertrauen der Jungs um ihn herum angehoben. Einfach zu verstehen, wie er es macht. Zu sehen, wie er trainiert, wie er arbeitet, wie er all die Dinge macht, und dann zu versuchen, die gleiche Arbeitsmentalität zu haben."

EIN ANDERER WEG

Doch wenn man 20 Jahre im gleichen Umfeld verbringt, die - in groben Strukturen - gleichen Abläufe immer wiederholt, und den gleichen Kodex befolgt, wie verändert das einen Menschen? Kontinuität sorgt für Stabilität, aber der immergleiche Rhythmus kann auch wie Scheuklappen wirken - man verliert vielleicht manche Dinge aus den Augen, oder der Drang, sich mit anderen, kreativen Wegen neu zu erfinden, wird eingeschränkt.

"Für die Tampa Bay Buccaneers zu spielen, ist ein neuer Schritt, eine Herausforderung, eine Gelegenheit, anzuführen und zusammenzuarbeiten, und auch, um gesehen und gehört zu werden", schrieb Brady im Frühjahr 2020. Wenn man diese Zeilen heute rückblickend liest, muss man fast zu dem Schluss kommen, dass Bradys veränderte Außendarstellung genauso geplant wie ein Wunsch Bradys war.

"Ich denke, ‘genießt’ ist ein ganz gutes Wort", sagt Vollmer im Gespräch mit SPOX über Bradys Buccaneers-Kapitel. Ich persönlich kenne natürlich Bill (Belichick) und wie er trainiert, und das ist hart, ganz ohne Frage. Es ist die NFL, du willst gewinnen, und er hat von der Historie her gezeigt, dass es funktioniert. Aber man kann auch anders gewinnen. Brady, Arians und die Buccaneers haben das gezeigt. Was aber natürlich nicht heißt, dass die nicht hart trainieren."

Vielleicht, so Vollmer, zeigen sie in Tampa "den Genuss ein bisschen mehr. Bei den Patriots war es dann eher auf dem Rückflug, intern, dass man es sich da ein bisschen gutgehen lässt. Oder man mietet sich einen Raum im Restaurant, wo die Öffentlichkeit nichts sieht. Es war einfach mehr privat. Bei den Buccaneers heißt es dann: ‘Gut, dann machen wir eben eine Parade auf unseren Booten.’ Das würde bei den Patriots nicht gehen."

Bradys in den sozialen Netzwerken millionenfach angesehener Wurf der Vince Lombardi Trophy von einem auf das andere Boot? "Das machst du eben bei den Patriots einfach nicht. Das wurde nie ausdrücklich so gesagt, aber es fühlt sich so verboten an. Das würdest du einfach nicht machen", ist sich Vollmer sicher.

Es ist unbestreitbar, dass Brady sich nach außen hin lockerer gibt. Da war die Super-Bowl-Parade. Oder der Besuch im Weißen Haus, wo er mit Präsident Joe Biden scherzte, sich selbst als "Sleepy Tom" bezeichnete und Trump-Unterstützer aufs Korn nahm, indem er sagte: "40 Prozent der Leute denken immer noch nicht, dass wir den Super Bowl gewonnen haben." 

Schon während der Saison nahm er sich mit Posts in den sozialen Medien selbst auf die Schippe. Oder als er vor einigen Wochen auf seine Free-Agency-Kampagne zurückblickte und ganz offen sagte: "Ich denke, man realisiert, dass es nicht so viele schlaue Leute gibt, wie man dachte. Es ist, als ob man die Chance hat, Wayne Gretzky oder Michael Jordan zu verpflichten und dann sagt: ‘Ah, nein danke, wir brauchen ihn nicht.’ Bei einem Team, das bis zum Ende interessiert war, dachte ich mir nur: Ihr bleibt stattdessen echt bei diesem Typen?!"

Er hat der Öffentlichkeit ganz zweifellos mehr Einblicke gewährt und präsentiert sich wesentlich lockerer, gelöster - auch wenn mehrere seiner ehemaligen Mitspieler zuletzt betonten, dass Brady hinter den Kulissen durchaus schon immer anders war, als es während seiner Patriots-Zeit nach außen hin wirkte.

Auch Vollmer bestätigt das: "Er ist schon immer ein lockerer Typ gewesen, der auch Spaß hat - aber eben zu seiner Zeit. An einem Freitagabend geht er sicher nicht weg, in der Offseason dann, nach dem gewonnenen Super Bowl, da kann man schon auch mal ein Bierchen trinken. Aber dann ist er auch am nächsten Tag im Studio und trainiert. Ich würde es so sagen: Er ist derselbe geblieben, aber man sieht ein wenig mehr."

In der Hinsicht ist Tampa Bay die ideale Bühne für die finalen Kapitel in Bradys Karriere. Nicht nur, weil das Wetter in den Wintermonaten deutlich angenehmer ist als in Foxboro, sondern auch, weil er bei den Buccaneers in Arians den idealen Head Coach hat, um diese andere Herangehensweise umzusetzen und sich zu einem gewissen Grad auch auszuprobieren. Belichicks Karrierebilanz, betont Arians stets, "spricht für sich. Er ist vermutlich der größte Coach aller Zeiten. Aber ich denke, Brady wollte noch einen anderen Weg ausprobieren."

Der beinhaltet in Tampa unter Arians auch intern mehr Freiheiten, wie Rob Gronkowski - der seine Karriere beendet hatte und dann zurückkam, um mit Brady für die Bucs zu spielen - offen zugab: "Die Freiheit, einfach du selbst zu sein mit den Coaches."

Das kann zum Beispiel die freiere Gestaltung des Trainingsplans während der Saison betreffen. Mehrfach schrieb Brady Arians während der Saison und fragte ihn, ob es okay wäre, wenn er den Mittwoch zwischen zwei Spielen aussitze, um die Akkus wieder aufzuladen. Arians gab sofort und ohne Nachfrage grünes Licht. Auch Gronkowski bekam immer wieder zusätzliche Pausen. "Ich habe ihm gesagt, dass er es mich wissen lassen soll, wenn er einen Tag frei braucht", erzählte Arians später, "denn er hatte vorher noch nie einen Tag frei bekommen."

DIE EIGENE STIMME GEFUNDEN

New England war anders, Belichick war anders. Nicht unbedingt besser oder schlechter, Brady und Belichick waren viel zu lange viel zu erfolgreich, um ein negatives Fazit zu ziehen.

Die Kultur, die Mentalität, die Brady und Belichick in Foxboro gemeinsam geprägt haben, war einerseits sehr hart und sehr direkt, andererseits aber auch extrem fokussiert und zielgerichtet. Mit bald Mitte 40 wollte Brady eine andere Philosophie ausprobieren. Vielleicht ist Arians' Ansatz einfach genau der Weg, den Brady brauchte, um seiner Karriere nochmal neuen Antrieb zu verschaffen und neue Motivation zu finden.

"Es ist schön, dass ich meine Stimme mehr gefunden habe", sagte Brady vor einigen Wochen selbst. Er sprach von einem "anderen Umfeld" und davon, dass er "das Spielen genieße, mit dieser Gruppe von Jungs."

Es ist ein anderes Umfeld in Tampa Bay, es ist eine andere Team-Kultur, und vielleicht ist hier auch Bradys Alter ein Faktor in einer ganz anderen Richtung. Wenn man älter wird, verändert sich auch das eigene Verhältnis zur Meinung anderer über einen selbst. Was einstmals in der eigenen Fassade nach außen hin wichtig war, erscheint plötzlich weniger gravierend. Das dürfte es auch Brady leichter machen, sich in der Öffentlichkeit mehr so zu geben, wie seine ehemaligen Mitspieler ihn schon lange zuvor wahrgenommen haben.

Vollmer, dessen neues Buch "What it Takes" sich genau mit diesen mentalen Aspekten beschäftigt, schränkt aber auch ein: "Man kann in Boston auch nicht durch einen Karstadt laufen. New York ist vielleicht nochmal krasser, aber in Boston kannst du mit seinem Status auch nicht in eine Bar gehen. Ich war einmal mit ihm weg, da waren innerhalb von einer Stunde bestimmt 300 Leute vor der Tür - und das war nur beim Essen, nicht mal in einem Club oder so. Das kann man sich kaum vorstellen."

Auch ein Abgang wie bei der Super-Bowl-Parade in Tampa im Februar wäre zu Patriots-Zeiten undenkbar gewesen.

All das sind Veränderungen im Bild, das die Öffentlichkeit von Brady hat, welche über das letzte Jahr zu beobachten waren. Doch man würde weder Brady, noch Arians gerecht werden, würde man den lockeren Stil als Basis für den rasanten Erfolg auslegen. Arians trägt das Herz auf der Zunge. Seine Art führt zwar zu vielen lockeren Sprüchen und Interaktionen, welche die Spieler sehr schätzen. Es kann manchmal aber auch anders ausgehen.

Es war nach der Auftaktniederlage gegen die New Orleans Saints, als erstmals die heile Welt in Tampa zu bröckeln schien. Arians kritisierte Brady für dessen zwei Interceptions öffentlich, stellte einmal sogar klar, dass Receiver Mike Evans die richtige Route gelaufen sei, Brady aber die Coverage falsch gelesen habe. Auch das offenbarte eine klar andere Herangehensweise als jene der stets so privaten Patriots.

Und es hätte weitere Möglichkeiten gegeben, welche die Lage hätten eskalieren lassen können - welche Bradys neu entdeckte öffentliche Stimme auch in eine andere Richtung hätten schieben können. Für jeden sichtbar gab es in den ersten Wochen der Saison Missverständnisse zwischen Brady und seinen Receivern. Brady war innerhalb der Offense nach der kaum vorhandenen Offseason längst noch nicht mit allem und jedem auf einer Wellenlänge.

Aber alle Kommunikationswege waren stets offen und so war es ein Telefonat zwischen Arians und Brady während der späten Bye Week, welches zur Weichenstellung Richtung Titel werden sollte. Über eine Stunde sprachen die beiden, komplett offen und ehrlich. Arians wollte von Brady wissen, welche Konzepte und Plays er mochte - und welche nicht. 

Die Sports Illustrated berichtete später von dem Telefonat, in welchem Arians irgendwann gesagt haben soll: "Wenn du ein Play nicht magst, werfen wir es aus dem Playbook." Ein bemerkenswertes Zugeständnis von einem sehr erfahrenen Coach, der aber dafür bekannt ist, seine Offense vergleichsweise kompromisslos spielen zu lassen. Für Brady installierte er unter anderem mehr Crossing-Elemente, mehr Möglichkeiten für Brady, den Ball auch mal schneller loszuwerden.

Die Bucs hatten sich mit Niederlagen gegen die Rams und die Chiefs in die Bye Week verabschiedet, Brady sagte dem Team damals: "Wir werden das hinbekommen. Wir werden kein Spiel mehr verlieren."

Seine Prognose sollte sich bewahrheiten. Tampa walzte nach der Bye Week auf dem Weg zum Super Bowl durch die Liga und brachte inklusive der Playoffs in nur noch einem einzigen Spiel weniger als 30 Punkte aufs Scoreboard.

"WAS BEDEUTET ES,
SICH ZU VERÄNDERN?"

Als Brady im Frühjahr 2020 jenen bereits erwähnten Aufsatz in der Players Tribune schrieb, stellte er mit den ersten Worten direkt eine Frage in den Raum: 

"Was bedeutet es, sich zu verändern, und sich selbst wieder und wieder herauszufordern?"

Ab einem gewissen Alter wird jeder diese Frage auch sich selbst stellen können; ob er zu lange in einem Job feststeckte, oder auch im Privatleben Dinge verändern will. Zu langer Stillstand führt irgendwann unweigerlich dazu, dass man in einen Trott fällt, dass man die Leidenschaft und den Spaß verliert.

Für Brady, wann immer er darüber spricht, stehen drei Dinge im Vordergrund: Die Liebe zum Spiel, der Wunsch, sich selbst herauszufordern - und die permanente Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln.

"Das ist kein Job", beschreibt Brady es selbst. "Es ist eine wahre Liebe, und ich habe mich vor sehr langer Zeit verliebt. Warum sollte man mit einem der Dinge, das man mit am meisten liebt in seinem Leben, einfach aufhören, wenn das Timing vielleicht nicht einmal passt? Ich denke, die Liebe für das, was ich mache und der Wille, kontinuierlich zu lernen und sich zu verbessern, das sind die Dinge, die mir am meisten Spaß machen."

Und sicher, ein neues Umfeld, ein neues Team, ein Neustart im Spätherbst der Karriere, all das sind im Fall Brady offensichtliche Faktoren. Aber es sind auch beispielsweise seine Kinder, die die Auftritte, das öffentliche Bild und die sportlichen Leistungen ihres Vaters jetzt viel bewusster mitbekommen als noch vor vier, fünf Jahren in New England. 

Nach dem Sieg in Green Bay im NFC Championship Game etwa kletterte Brady auf den Zaun und umarmte seinen Sohn Jack, die Szene ging anschließend um die Welt. Es dürfte einige solcher Szenen geben, wenn Brady und die Buccaneers in Woche 4 der kommenden Saison nach Foxboro reisen, um gegen die Patriots zu spielen. Mit Sicherheit werden alle Akteure im Vorfeld betonen, dass es ein normales Spiel ist, und natürlich wird jeder wissen, dass das nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte.

Und wer weiß schon, was danach kommt. Brady geht in seine 22. NFL-Saison, zu seinem 44. Geburtstag Anfang August machte eine Beobachtung die Runde in den sozialen Medien: Brady ist exakt doppelt so alt wie Zach Wilson, der Top-Pick und neue Quarterback-Hoffnungsträger der New York Jets. Brett Favre war 40, als er seinen letzten großen Anlauf mit den Minnesota Vikings nahm, Vinny Testaverde spielte noch mit 44, Warren Moon mit 43, doch Brady bewegt sich weitestgehend in unbekanntem Terrain, insbesondere angesichts des Niveaus, auf dem er noch immer spielt.

Prognosen darüber, wann es für Brady den Bach runter geht, sind allein deshalb mehr oder weniger nutzlos - und auch die Buccaneers setzen nach oben kein Limit. Geschäftsführer Jason Licht verriet jüngst, dass er Brady in Aussicht gestellt hat, dass er auch bis 50 in Tampa spielen könnte.

Doch bei dieser Schallmauer ist sogar Brady, der schon vor Jahren angekündigt hatte, bis 45 spielen zu wollen, zurückhaltend. "50? Das ist eine lange Zeit, selbst für mich", antwortete er in der USA Today. "45 war immer mein Ziel, das Alter, das ich schaffen wollte. Ich habe einen Zweijahresvertrag, ich werde dieses Jahr spielen, und hoffentlich kann ich auch nächstes Jahr spielen. Dann sehen wir, was passiert. Falls ich dann noch spielen will, vielleicht kann ich das."

Das allerdings müsse man dann evaluieren, immerhin sei es "ein physischer Sport. Alles ist denkbar."

"Ich werde dieses Jahr alles geben, so wie ich es jedes Jahr gemacht habe. Und dann schauen wir weiter."