Wimbledon: Angelique Kerber - Protokoll eines historischen Samstags

Von Jörg Allmeroth
Angelique Kerber - Mit besten Grüßen vom Clubhaus-Balkon
© Jürgen Hasenkopf
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Nur fünf leichte Fehler - insgesamt

Sie macht Williams verrückt, weil sie kaum Fehler macht. Es werden am Ende der Partie nur fünf Fehler sein, es ist eine Quote, von der man eigentlich nur träumen kann. Aber Kerber ist eben auch die Aggressorin, gezielt setzt sie ihre Nadelstiche, mit wuchtigen Siegschlägen aus allen Winkeln des Platzes. Es ist ein Auftritt, der wie unterm Brennglas die Evolution von Kerbers Spiel und Karriere aufzeigt, den Weg, den sie von der ersten Euphoriewelle des Jahres 2016 über den Absturz 2017 bis zur Reformoffensive danach gegangen ist. Kerber ist im Hier und Jetzt besser denn je, sie ist auch reif für die schwerste Aufgabe, für den Höchstpreis im Tennis - für den Wimbledon-Triumph.

Die Mutter aller Siege

Um 18.22 Uhr ist es dann soweit. Der Moment, von dem sie sagt, er sei ihr "Lebenstraum" gewesen. Williams schlägt eine Rückhand ins Netz, der 6:3, 6:3-Sieg ist perfekt an einem perfekten Tag - und Kerber gleitet hinab auf den Rasen, wird von Tränen geschüttelt, läuft dann hinauf in die Ehrenloge, wo sie von Trainer Fissette und Mama Beata geherzt und gedrückt wird.

Es ist die Mutter aller Siege, gegen die großartige Mutter und großartige Verliererin Serena. "Danke, danke. Vielen Dank", sagt Kerber, als die Amerikanerin sie umarmt. Später, beim Siegerinterview, wird sie sagen: "Sie ist eine großartige Persönlichkeit. Ein Vorbild für uns alle."

18.27 Uhr zeigt die Uhr auf dem Centre Court an, als der Herzog von Kent der ersten deutschen Wimbledonsiegerin dieses Jahrhunderts die Venus Rosewater-Schale überreicht, vor den Augen der Herzoginnen Kate und Meghan. Die royale Instanz an diesem 14. Juli 2018 ist aber Kerber, sie ist die Königin von Wimbledon, die Königin des Centre Court. "Es ist ein Moment, den man für alle Ewigkeit festhalten will", sagt Kerber später. Aber sie bleibt nun auch ein Leben lang Wimbledonsiegerin, sie weiß es ja selbst, erklärt es bei einem Pressegespräch am Abend so: "Das ist für immer."

Gruß vom Klubbalkon

Kaum hat Kerber den Centre Court verlassen, folgen schon die nächsten denkwürdigen Augenblicke. Gemeinsam mit Klubchef Philip Brooke steht sie vor der Siegerinnengalerie, auf der die Namen der Navratilovas, Grafs und Co. aufgelistet sind. Wimbledon ist schnell, wenn es gilt, ikonische Bilder zu produzieren - und so ist der Namenszug Kerber für 2018 schon aufgedruckt. Es geht weiter für Kerber, Smalltalk mit den beiden Herzoginnen ("Sie waren unheimlich nett zu mir"), ein Küsschen von IOC-Präsident Thomas Bach, dann der Ausflug auf den Balkon vor dem prunkvollen Haupteingang. Die Menge johlt, Kerber zeigt glückstrunken die Schale. Wieder und wieder. Kerber genießt es. Sie zeigt ihr schönstes Lächeln.

Wiedersehen auf der Spielerterrasse

Um halb Acht läuft sie auf die Terrasse des Spielerrestaurants, es ist das Wiedersehen mit der Familie, mit Freunden, die herüber gekommen sind nach London, mit Sponsorenpartnern. Kerber nippt an einem Gläschen Sekt, es ist keine ausgelassene Freude zu sehen, es ist eher ein Gefühl der Dankbarkeit, das beherrschend ist. Dankbarkeit, dass dieser Tag, dieser Sieg möglich geworden ist.

Für 19.45 Uhr ist ein Fototermin angesetzt, ein Vertreter des All England Club steckt Kerber eine kleine lilafarbene Plakette an, sie ist als Siegerin nun lebenslang Mitglied in diesem elitärsten aller Tennisclubs. Für sie ist nun immer ein Platz frei in der sogenannten Members Box auf dem Centre Court.

Stafettenlauf durch Presse, Funk und Fernsehen

Was es bedeutet, Wimbledonsiegerin zu sein, davon bekommt Kerber am Abend einen ersten dezenten Vorgeschmack. Einen Stafettenlauf durch Presse, Funk und Fernsehen wie jetzt, zwei Stunden nach dem Schlag in ein neues Tennisleben, hat sie noch nie bewältigen dürfen - oder müssen. Selbst nicht nach den Grand Slam-Siegen 2016, nach dem damaligen Sprung auf Platz 1.

Dem großen Siegerinnengespräch mit der Weltpresse im "Main Interview Romm" folgen Einzeltermine mit verschiedenen Networks, ganz am Ende der ersten Terminliste steht sogar ein Talk mit "Rolex TV", von dem man bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wußte, dass es überhaupt existiert.

Der Termin-Wahnsinn nimmt in Wimbledon kein Ende

Heraus aus den Katakomben des Pressezentrums, hinauf auf die Medienterrasse, heißt es dann. Dort gibt es neuerdings eine Mixedzone, weil der Blick auf die Anlage so schön ist, und dort wird mit Kerber auch ein Schaltgespräch fürs "Aktuelle Sport-Studio" aufgezeichnet. Kerber freut sich über den tosenden Beifall in Mainz, der ihr in den Kopfhörer dringt. Dann sagt sie zu Moderator Jochen Breyer: "Es ist immer noch ein Wahnsinn, dieser Sieg. Alles, was hier passiert ist."

Aber auch der Termin-Wahnsinn ist noch nicht zu Ende, es warten noch die großen Stationen, CNN, der Tennis Channel, Fox Sports. Und auch die BBC, der Sender, der hier das Heimspiel hat. Kerber kommt hinein zur Aufzeichnung der legendären Sendung "Today at Wimbledon", plaudert locker mit den anderen Gästen, auch mit Martina Navratilova.

Es wird Deutsch gesprochen

Kurz vor Mitternacht, als der Talk dann in ganz Britannien gesendet wird, verabschiedet sich Moderatorin Claire Balding mit "Gute Nacht" von den Fern-Sehern. Und Kerber stimmt ein: "Gute Nacht aus Wimbledon". Es wird also wieder Deutsch gesprochen hier, beim Turnier der Turnieren.

Es ist schon Viertel nach Elf, als Kerber, das Team und die Familie in die Innenstadt aufbrechen, im Taxi nach London sitzen. Sie wollen den Sieg in Wimbledon feiern, aber Wimbledon und seine Pflichten hinter sich lassen. "Es war eine schöne Feier. Im kleinen Kreis. Aber richtig gut", sagt Kerber. Eine Feier, wie sie die Wimbledonsiegerin Kerber mag, die Frau, die ab dem 14. Juli nun noch einmal ein anderes Leben führen wird.