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... bis er zum Hulk wird

Von Jan Dafeld
Jonathan Allen (r.) schaffte es zweimal ins Folge ins National Championship Game
© getty

Er wurde als bester Defender der SEC ausgezeichnet und hat mit Alabama den College-Titel gewonnen, dennoch fliegt Jonathan Allen unterm Radar. Der 22-Jährige hätte es um ein Haar nicht in seine Highschool-Mannschaft geschafft und scheut abseits des Platzes das Rampenlicht. SPOX stellt den Mann vor, der sich Ray Lewis zum Vorbild genommen hat und dadurch auf dem Football-Feld zu einem anderen Menschen wird.

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"Es gibt da einen Mythos, den man sich von den Gefechten im 2. Weltkrieg erzählt: Wenn die Soldaten unter Beschuss gerieten, dann fühlten sie sich so lebendig wie nie zuvor. Sie konnten schärfer sehen, besser riechen, schneller laufen. Sie erhielten einen Adrenalinschub. Sie waren bessere Soldaten." Richard Allens Augen beginnen zu leuchten, wenn er diese Geschichte erzählt. Er ist beim Militär tätig, seitdem er die Schule verlassen hat. Der Mythos ist für ihn mehr als nur eine Legende.

Der Adrenalinschub soll auch aus seinem Sohn einen besseren Soldaten machen. Einen Soldaten auf dem Footballfeld. "Ray Lewis war wütend, wenn er Football gespielt hat. Kontrollierte Wut ist gut", so Allen gegenüber Bleacher Report. "Solange du es kontrollieren kannst, ist es positiv."

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Als Richard Allen im Jahr 2004 nach einem langen Rechtsstreit das Sorgerecht für seinen neunjährigen Sohn Jonathan erhielt, war von kontrollierter Wut noch nichts zu spüren. "Jonathan hatte Aggressionsprobleme. Das war ein Problem für ihn", blickt Richard heute zurück. Sein Sohn Richard III, Jonathans Bruder, berichtet: "Mein Vater war sehr hart zu mir. Und ich war sehr hart zu Jonathan. Zu hart."

Kindheit in Pflegeheimen

Jonathan Allen und sein Bruder wuchsen unter schwierigen Bedingungen auf. Der Militärdienst verschlug den Vater nach Südkorea. Als die Kinder regelmäßig der Schule fernblieben, verlor die Mutter das Sorgerecht für die beiden. Über mehrere Jahre mussten sich die Brüder bei den Großeltern, in Pflegeheimen und in Pflegefamilien durchschlagen.

"Jonathan war ein kleines Muttersöhnchen. Für ihn war es härter als für mich", sagt der acht Jahre ältere Richard III. "Es gab keine Vaterfigur für ihn. In den Pflegeheimen arbeiteten Jugendliche, die vielleicht Anfang 20 waren und auch ich habe nie versucht, eine Vaterfigur zu sein. Ich war nur ein großer Bruder."

Das Aufwachsen ohne Vater und Mutter setzte dem kleinen Jonathan zu. Oft weinte er abends in den Pflegeheimen. Sein Bruder zeigte kaum Verständnis. "Du hast Essen, du hast Klamotten, du hast ein Dach über dem Kopf. Du solltest nicht weinen", sagte dieser zu ihm. Jonathan war keine zehn Jahre alt, doch Mitgefühl konnte er nicht erwarten. "Sei ein Mann!", war die Botschaft, die ihm sein Bruder vermitteln wollte.

"Mein Vater hat mir beigebracht, hart zu sein, keine Emotionen oder Schwächen zu zeigen. Wir sind Allens, wir sind nicht schwach", erzählt Richard III. "Wir zeigen Mitmenschen unsere Liebe, aber wenn es an der Zeit ist, aggressiv zu sein, dann zeige Stärke! Genau das sehe ich heute auch in Jonathan - wenn er auf dem Football-Feld steht. Er hat dann eine zweite Persönlichkeit."

Hulk wird geboren

Auf der Highschool mussten auch seine Mitschüler diese Erfahrung machen. Allen waren seine Entschlossenheit und Wut anzusehen. Kontrollierte Wut. Viele Mitspieler trauten sich an Spieltagen kaum mit dem aggressiven Defensive Lineman zu sprechen. Seine Mitschüler verpassten ihm - zwar wenig kreativ, dafür aber umso passender - einen Spitznamen: The Hulk.

Doch Allen war nicht nur das grüne Monster auf dem Football-Feld. Er war gleichzeitig auch der zurückhaltende Bruce Banner. "Einer der Lehrer bat mich einmal in sein Büro. 'Es geht um Allen', sagte er", erzählt sein damaliger Coach Mickey Thompson Bleacher Report: "Ich war mir sicher, dass es Probleme gab. Wenn ein Lehrer dich wegen eines Spielers sprechen will, dann ist das nie ein gutes Zeichen."

Doch Allen reizte seine Lehrer nicht, er faszinierte sie. Im Unterricht saß er stets in der ersten Reihe. Auf Fragen antwortete er mit "Ja, Sir!" und "Nein, Sir!". "Das hat nichts mit dem Militär und seinem Vater zu tun", sagte der Lehrer damals gegenüber Thompson. "Wenn ich die Schüler in Gruppen arbeiten lasse, dann setzte er sich zu den schüchternen Kindern, den Außenseitern. In dieser Hinsicht ist er etwas Besonderes."

Receiver? Running Back? Defensive Lineman!

Allen gab sich stets zurückhaltend und scheute die Aufmerksamkeit. Doch: Bereits als Kind war er ein regionaler Superstar. Bei Auswärtsspielen musste sein Team nach Spielende im Bus warten, weil Allen noch Autogramme für die gegnerischen Fans schreiben sollte. In seinem zweiten Jahr an der Stone Bridge High School wurde ein Briefkasten extra für ihn eingerichtet, da die vielen Anfragen von Colleges andernfalls nicht zu bewältigen gewesen wären.

Dabei wäre der Überathlet um ein Haar überhaupt nicht nicht im Football-Programm gelandet. In seinem ersten Jahr blieb Allen den Sportteams fern, im zweiten schaffte er es erst über Umwege in die Mannschaft: Head Coach Thompson sah in dem athletischen und schnellen Hünen einen Receiver mit Traummaßen, doch beim Tryout ließ in sein Körper im Stich. "Er hat alles fallen gelassen. Jeden einzelnen Pass", erinnert sich Defensive Coordinator Derek Barlow.

Allens Glück: Seine Statur war zu beeindruckend, um gecuttet zu werden. Eher aus Ratlosigkeit steckten in die Coaches schließlich zu den Defensive Linemen. "Ich habe in meinem ganzen Leben nicht Defensive Line gespielt. Ich wollte auch nicht. Ich wollte ein Running Back sein", erinnert sich das Kraftpaket heute.

Zu dominant für das Training

Statt einem Running Back wurde Allen zum Albtraum jeder Offensive Line. In seinem ersten Spiel verbuchte er vier Sacks. Obwohl er sich schnell regemäßig Double- und Triple-Teams gegenübersah, brach er gleich in seinem allerersten Jahr den Schulrekord - 22 Sacks!

Allen war nicht nur athletischer als jeder seiner Gegen- und Mitspieler, er arbeitete unermüdlich an neuen Facetten im Pass-Rush. "Nach einem Spiel, in dem Jonathan drei Sacks gesammelt hatte, lobte der Coach mich anschließend für die tollen Pass-Rush-Moves, die ich ihm beigebracht hätte. Dabei würde ich sowas niemals trainieren lassen. Kinder können so etwas nicht", erzählt Barlow heute. Als er Allen anschließend darauf ansprach, erwiderte dieser, er habe nur etwas ausprobieren wollte, was er im Fernsehen gesehen hatte.

Allens Verbindung aus Aggression und Athletik verursachte Probleme. Meist für die Gegenspieler, doch teilweise sogar beim eigenen Team. An einigen Trainingsübungen durfte er nur noch teilweise oder auf Sparflamme teilnehmen, da er seine Mitspieler entweder verletzte oder es der offensiven Trainingsgruppe unmöglich machte, Spielzüge zu trainieren. "Er spielte mit einer Wut, die ich sonst nirgendwo jemals gesehen habe", so Coach Thompson bei CBS. "Ich denke, das hat sich bis heute nicht wirklich verändert", lächelt Allen: "Ich habe es wahrscheinlich ein wenig zurückfahren können und spiele ein bisschen cleverer als in der Highschool. Aber das war es auch."

Nur als Musterschüler zum Profi

Auch auf dem nächsten Level kann sich Allen schnell von Mit- und Gegenspielern abheben. "Dieser Junge hat sich jedes Jahr entwickelt, er ist jedes Jahr ein besserer Spieler geworden", lobt ihn sein College-Coach Nick Saban bei al.com. "Ich denke, einige Spieler vergessen, dass Football ein Spiel der Entwicklung ist. Er nicht. Er ist ein gutes Beispiel dafür, was durch Arbeit möglich ist"

Der Youngster, der von so vielen Colleges umworben wurde, entschied sich schnell für die Universität von Alabama. Bereits nach dem Treffen mit dem Athletik-Trainer des Teams soll die Entscheidung festgestanden haben. "Die Qualität bei Alabama ist dermaßen hoch, dass wir wussten: Wenn er es da schafft, dann kann er es auch zum Profi bringen", erklärt Allens Vater die Entscheidung.

Von Beginn an stand die schulische Laufbahn für ihn im Vordergrund. Nur mit Bestnoten durfte Jonathan am Training teilnehmen. Seinem Bruder, der ein Durchchnittsschüler war, erlaubte der Vater es nie. Selbst von den größten Highschool-Stars schafft es nur ein Bruchteil tatsächlich in die NFL, das wusste auch Richard.

Ein nationaler Superstar

Am College wurde allerdings schnell klar, dass Allen tatsächlich das Zeug zum Profi hat. In seinem Sophomore-Jahr führte er das Team mit 11 Tackles for Loss an, als Junior verbuchte er mit 12 Sacks auch noch die meisten seiner Mannschaft. Bereits nach seinem dritten Jahr wollte Allen die Uni verlassen. Erst als er hörte, dass er nicht als First-Round-Talent gesehen wurde, entschied er sich, nach Alabama zurückzukehren. Er fühlte sich nicht ausreichend respektiert.

Dabei hätte es ein glorreicher Abgang für den Lineman sein können. Mit ihm als einem der Eckpfeiler gewann Alabama die National Championship und krönte sich zum College-Meister. Doch das reichte Allen nicht. Das Finale verkam zu einem Offensivspektakel, die hochgelobte Defense der Crimson Tide ließ 550 Yards und 40 Punkte zu. "Ich bin froh, dass wir gewonnen haben, aber insgesamt war es kein gutes Gefühl", erzählt Allen, der sich bis heute keine Highlights aus diesem Spiel angeguckt hat, der Washington Post.

In der darauffolgenden Saison brachte es der 120-Kilo-Koloss dann endgültig zum nationalen Superstar. 10,5 Sacks, 16 Tackles for Loss und zwei Touchdowns machten Allen zum besten Defender in der stärksten Verteidigung des Landes. Zweifelsohne gehörte er zu den dominantesten Spielern der Saison: "Auch wenn er wusste, dass er realistisch gesehen keine Chance auf den Sieg haben würde, war er doch etwas enttäuscht nicht zu den Heisman-Finalisten zu gehören", glaubt sein Vater.

"Habe mich nicht wie der Bösewicht gefühlt"

Doch auch unabhängig von dieser Nichtberücksichtigung endete Allens College-Karriere mit einem herben Dämpfer - wie auch schon seine Highschool-Zeit. Damals verlor Stone Bridge das Finale der State Championship. In letzter Minute gab die Offense an der gegnerischen Acht-Yard-Linie den Ball aus der Hand. "Ich denke dauernd daran", sagt Allen gegenüber CBS. "Es regt mich auf. Wir hätten dieses Spiel gewinnen sollen."

2017 traf es ihn allerdings noch härter. In der Wiederauflage des Vorjahres-Finalspiels verlor Alabama durch einen Touchdown-Catch in buchstäblich letzter Sekunde - und diesmal stand Allen in dem entscheidenden Moment sogar mit auf dem Feld. Nach dem Spiel saß der Superstar noch lange alleine auf dem Rasen. Die Niederlage ist für ihn noch heute, Monate später, schwer zu verarbeiten:

"Ich weiß, dass jeder in Alabama den Goliath sieht. Wir sind der Darth Vader des College Footballs. Und ich weiß, dass unsere Niederlage für viele Leute ein Happy End war. Ich verstehe das", schrieb Allen im Abschiedsbrief von seiner Universität für Player's Tribune. "Aber dort auf dem Feld in Tampa zu sitzen, den gegnerischen Spielern beim Feiern zuzusehen und zu wissen, dass das das Ende eines Lebensabschnitts ist, der mir immer unglaublich viel bedeuten wird, in diesem Moment habe ich mich nicht wie der Bösewicht gefühlt."

Allen kommt mit den Titeln des besten Defensive Ends und des besten Defensive Players im Gepäck in die NFL. Ein Kandidat für den ersten Pick im Draft ist er dennoch nicht. Die Schlagzeilen bestimmt der ein Jahr jüngere Myles Garrett. Ernsthafte Schulterprobleme belasten seinen Wert ebenso wie die ungeklärte Frage, ob er auf dem NFL-Level innen oder außen in der Defensive Line eingesetzt werden sollte.

Es sind Probleme, die Allen nur zu gut kennt. Aus seiner Highschool-Zeit. Aus seiner College-Zeit. "Er wird der beste Spieler dieses Draft-Jahrgangs werden", zeigt sich Scout Phil Savage gegenüber Bleacher Report trotz der Fragezeichen überzeugt von den Qualitäten des besten Verteidigers 2017. Der 22-Jährige selbst gibt sich zurückhaltender. Die Suche nach dem Rampenlicht liegt nicht in seinem Naturell. Bis zum Spieltag. Bis er zum Hulk wird.

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