Olympische Spiele - Tag 6 kompakt: Was Simone Biles' Rückzug mit Arjen Robben zu tun hat

Von Stefan Petri
Jessica von Bredow-Werndl, die Königin unter den Sitzriesinnen und Sitzriesen, Eduard Trippel, der Russell Crowe im Frottee-Zweiteiler, und Paul Drux/Uwe Gensheimer, die Last-Minute-Experten (v.l.).
© getty

Mit fünf Medaillen bei den Olympischen Spielen in Tokio wird der Mittwoch zum bisher erfolgreichsten Wettkampftag für Team Deutschland. Im Sitzen sind wir immer noch eine Macht. Außerdem: Gedanken zu Simone Biles, Backpfeifen, Gladiator-Zitate und gefangene Krebse. Olympia kompakt.

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Deutschland, das Land der Sitzriesen! Wie im großen Medaillencheck vorhergesagt, sind wir auf unseren vier Buchstaben immer noch eine Macht. Nach Goldmedaillen im Kanuslalom und der Dressur am Dienstag legte Jessica von Bredow-Werndl heute nach - und ging dabei nicht einmal aus dem Sattel. Unsere Bilanz bisher: dreimal Gold - dreimal im Sitzen.

Besonders war der Tag auch deshalb, weil wir in Problemdisziplinen endlich mal wieder zuschlagen konnten. Bronze im olympischen Pool, die erste Medaille dort seit 2008. Silber im Judo, erste Männermedaille seit 2012. Und dann noch der glorreiche Coup unserer Wasserspringer.

Der ganze Olympia-Tag zum Nachlesen im Ticker.

Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass am Mittwoch auch ein paar Pleiten zu verdauen waren: Die Fußballer fahren nach Hause, die Handballer können einfach kein enges Spiel gewinnen. Max Hartung hat seine Karriere ohne Medaille beendet, im Kampf um Bronze wurden die deutschen Säbelfechter filetiert. Der Doppelvierer stellte sich irgendwie selbst ein Bein, die Kämpfe im Judo um Gold (Trippel) und Bronze (Scoccimarro) gingen leider verloren. Kleiner Tipp: Einfach mal Unterricht bei Dima Ovtcharov nehmen, wie man einen favorisierten Gegner trotz Rückstand am Ende doch noch schlägt.

Die wichtigsten Entscheidungen des Tages (Vorschau auf Tag 7):

Was sonst noch wichtig war:

Judo: Fast hätte Eduard Trippel sich im Mittelgewicht sensationell die Goldmedaille um den Hals gehängt. Am Ende war es "nur" Silber, dennoch ein überragender Durchmarsch durch die Konkurrenz. Auch, weil Trippel seine Gegner mit einer einfachen wie genialen Taktik entnervte: lächeln. "Das war einfach meine Masche heute. Ich wollte mit einem Lächeln durch diesen Wettkampf gehen", verriet er. Hat geklappt.

Außerdem wissen wir jetzt, dass er sich vor jedem Kampf auf die Brust schlägt, mit den Worten "Ehre und Stärke" aus Gladiator. Stark. Da habe ich doch direkt noch ein Zitat aus dem Russell-Crowe-Vehikel, Edu: "Der Tod lächelt uns alle an. Doch ein Mann kann nur zurücklächeln, mehr nicht." Nee, passt nicht, schließlich betonte Trippel: "Wovor soll ich denn Angst haben? Ich kann Judo, ich werde nicht auf der Matte sterben." Okay ... wie wäre es dann mit: "Wer sich wiederfindet über grüne Wiesen reitend, die Sonne im Gesicht, sollte nicht verwundert sein. Denn er ist im Elysium und ist bereits tot!" Nein, er stirbt ja nicht. Egal, mir fällt schon noch was ein.

Turnen: Zeit für ein Geständnis. Ich habe gestern und heute viel über die Situation von Simone Biles und die weltweite Reaktion auf ihren Rückzug - erst aus dem Mehrkampf mit der Mannschaft, heute dann aus dem Einzel - nachgedacht. Und bin ein bisschen ratlos.

Klare Sache: Ihre Entscheidung verdient Respekt, ihre schwierige Situation Mitgefühl. Sie macht ihre Leistungen aus der Vergangenheit keineswegs zunichte. Wenn man beim Turnen nicht zu hundert Prozent bei der Sache ist, wird es zudem sehr schnell richtig gefährlich. Es war richtig, nach dem ersten Sprung nicht mehr anzutreten.

Aber gleichzeitig ... ist es doch besser, die eigene Leistung abrufen und bringen zu können, als es nicht zu tun. Oder? "Simone Biles hat die Mentalität einer wahren Meisterin gezeigt", schrieb zum Beispiel die New York Times. Diese und ähnliche Lobreden, schießen sie nicht über das Ziel hinaus? Wir feiern die besten Athleten der Welt doch auch dafür, dass sie unter dem größten Druck, auf der größten aller Bühnen, ihre bestmögliche Leistung abrufen können. Und jetzt feiern wir sie auch dafür, dass ... sie es nicht können?

Schließlich gibt es ja auch noch die sportliche Komponente. Und in dieser Hinsicht sah man bei Biles das, was man ganz klassisch als "Choke" bezeichnen würde. Noch einmal: Großer Respekt davor, wie sie ihre Probleme öffentlich machte. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie dem Druck diesmal nicht gewachsen war. So unbarmherzig das klingt. In der Vergangenheit war sie es eigentlich immer, mit sensationellen Erfolgen. Dafür wurde sie als beste Turnerin aller Zeiten gefeiert.

Andere Sportler ernten Kritik, wenn sie ihre Leistung nicht abrufen. Wenn die "Nerven nicht mitgespielt haben". Ist das falsch? Müssen wir unsere Einordnung sportlicher Leistungen von Grund auf überdenken? Ich weiß es nicht.

Mein Eindruck: Ich glaube, dass wir uns alle beim Thema "mentale Gesundheit" erst noch kalibrieren müssen, weil es so vergleichsweise neu ist. Das wirft eine Menge Fragen auf. Werden beim nächsten Elfmeterschießen im EM-Finale nicht mehr die Spieler gefeiert, die sich den Ball schnappen, sondern die, die mit Verweis auf den hohen Druck ablehnen? Mentale "Verletzungen" sollten ähnlich wie körperliche diagnostiziert und behandelt werden, fordern einige. Wird dann auch ähnlich geurteilt? Arjen Robben war der "Mann aus Glas", weil er so oft verletzt fehlte. Bekommen die, die psychisch Auszeiten brauchen, dann ähnliche Spitznamen ab? Fühlt es sich da nicht deutlich gehässiger an? Aber ist das nicht die Natur des Sports? Ich bin sehr gespannt darauf, wie sich die Debatte entwickeln wird.

Handball: Ich war kurz davor, mich durch WM- und EM-Archive zu wühlen und die Endstände der deutschen Nationalmannschaft in engen Spielen gegen die Top-Nationen herauszukramen. Gefühlt haben wir nämlich seit dem Wintermärchen 2007 jedes, aber auch wirklich jedes Topspiel am Ende hauchdünn verloren - oder einen Sieg zumindest in letzter Sekunde in ein Remis verwandelt (und ja, ich weiß, dass wir 2016 Europameister waren).

Das Wühlen kann ich aber guten Gewissens sein lassen. Schließlich geht es den Protagonisten auf der Platte nicht anders. "Wir sind immer ganz knapp dran an den Großen, aber wir kriegen es einfach nicht gedeichselt", sagte Philipp Weber. "Das zieht sich schon lange Zeit wie ein roter Faden bei uns durch, dass wir die Topspiele nicht gewinnen", bilanzierte Hendrik Pekeler. In Twitter-Sprache: Deutsche Handballer bekannt als "Bad Boys", weil sie halt sehr schlecht sind.

Das ist es nicht. Aber was dann? Da wird dann oft von großartigen kämpferischen Leistungen geredet, von fehlendem Spielglück, aber einem Auftritt, der Mut macht fürs nächste Mal. Seid froh, dass ihr keine Dortmunder seid, liebe Bad Boys. Sonst wäre längst die Mentalitätsfrage gestellt worden.

Radsport: Müssen wir über den "Kameltreiber" reden? Müssen wir wohl. Seufz. Gefühlt ist da schon alles gesagt worden, nur noch nicht von allen. Muss vielleicht sein, damit sich endlich was ändert. Ich würde es hier trotzdem Nikias Arndts Reaktion belassen: "Ich bin entsetzt über die Vorfälle beim heutigen olympischen Zeitfahren und möchte mich hiermit deutlich von den Aussagen des sportlichen Direktors distanzieren. Solche Worte sind nicht akzeptabel."

Rudern: Man lernt doch immer wieder dazu. Heute Nacht lernte Olympia-Deutschland kollektiv, was es bedeutet, wenn man "einen Krebs fängt". So nennen es die Ruderer, wenn der Rhythmus an Bord plötzlich flöten geht - und mit ihm die Geschwindigkeit. Der deutsche Damen-Doppelvierer war auf dem besten Weg zu Silber, als ihnen plötzlich kurz vor dem Ziel der Stecker gezogen wurde - fünfter Platz. Was war passiert? Ruder verloren? Torpedo? Hatte sie ein fieser Taucher an die Kette gelegt? Nein: Krebs gefangen. Ausgerechnet im Endlauf der Olympischen Spiele.

Backpfeifen des Tages: Claudio Pusa

Okay, eigentlich spielten sich die Backpfeifen gestern ab, müssen hier aber dennoch Erwähnung finden. Judo-Bundestrainer motivierte Martyna Trajdos vor ihrem Auftaktkampf nämlich äußerst liebevoll, indem er sie zuerst am Kragen packte und durchrüttelte - und ihr anschließend links und rechts eine scheuerte. Entwarnung! Alles geplant, alles abgesprochen! "Das ist eben mein Ritual, was ich mir vor dem Wettkampf ausgesucht habe", beteuerte Tradjos. Sah der Weltverband aber gar nicht ein und sprach eine "ernste Verwarnung" aus, schließlich sei Judo eine "erzieherische Sportart". Gebracht hat es sowieso nichts: Trajdos schied in der ersten Runde aus.

Thronfolger des Tages: Daiki Hashimoto

Als "King Kohei" Uchimura, Mehrkampf-Olympiasieger von London 2012 und Rio 2016, in seiner Heimat nur noch am Reck antrat und dort das Finale sogar verpasste, hätte man in Japan am liebsten Staatstrauer ausgerufen. Dass die lebende Legende so schnell einen würdigen Nachfolger findet, damit hätte keiner gerechnet. Ist aber passiert: Daiki Hashimoto, 19 Jahre jung, krönte sich mit einer starken Performance am Reck in letzter Sekunde zum König der Turner - und trat in übergroße Fußstapfen.

Caddie des Tages: Michelle Lin

Pan Cheng-tsung aus Taiwan will im Golfturnier möglichst weit vorn landen. Geht aber schlecht, wenn Familienangehörige in Tokio nicht erlaubt sind. Also machte Pan seine Herzensdame Michelle Lin kurzerhand zu seinem Caddie. Ein Fuchs! Es hilft natürlich, dass Lin nicht ganz ahnungslos ist, was das Golfspiel ist: "Sie kennt mich sehr gut, sie war schon Caddie und kennt meine schlechten Angewohnheiten. Sie kann das Richtige zur richtigen Zeit sagen. Sie wird mir mehr eine mentale Stütze sein."

Wurf des Tages: Kelsey Plum

Die US-Frauen haben die erste Version des 3X3-Turniers bei Olympischen Spielen gewonnen. Gefühlt lief das Turnier die letzten Tage auf Eurosport 2 rauf und runter - und war für meine NBA-gewohnten Augen definitiv eine neue Erfahrung. Kelsey Plum und Co. haben also einen großen Wurf gelandet, Glückwunsch. Okay, Ihr habt mich ertappt. Eigentlich will ich nur auf diesen Wurf von Miss Plum verlinken. Da fällt mir nämlich bis heute die Kinnlade runter. Vielleicht doch lieber eine Karriere als Quarterback anstreben?

Hose des Tages: Kristof Milak

21 Jahre ist Kristof Milak alt, Ungar, und neuer Olympiasieger über 200 Meter Schmetterling. Wo ein Laszlo Cseh (Kennt den noch jemand? Verlor von 2008 bis 2016 gefühlt jedes Lagenrennen mit einer Hunderstel Rückstand gegen Michael Phelps) nie Gold gewinnen konnte, hat Milak frei nach Mehmet Scholl schon jetzt keine Ziele mehr. Doch, eines noch. Den Weltrekord. Den packte er am Mittwoch nämlich nicht, weil ihm kurz vor dem Start die Schwimmhose einriss - "und in diesem Moment wusste ich, dass der Weltrekord weg war." Mensch, Kristof, nur falls du es vergessen hast: Der alte Weltrekord ist auch von dir. Also alles gut.

Sprüche des Tages

"Andere bleiben cool. Sarah bleibt Köhler." (Zweifelhafte Twitter-Grafik von Team Deutschland)

"Ab 900 m tat es wirklich richtig weh. Dann ist es - wie für alle anderen auch - an einem gewissen Punkt ein Kampf gegen den inneren Schweinehund. Aber ich wollte in diesem Finale unbedingt die Medaille. Ich habe einfach versucht, den Schmerz zu ignorieren." (Sarah Köhler über ihre Bronzemedaille über die 1500 Meter Freistil)

"Die Enttäuschung ist sehr groß, keiner von uns will nach Hause. Wir haben nichts erreicht." (Max Kruse nach dem Aus der Fußballer in der Vorrunde)

"Wir haben alles riskiert, alles oder nichts - jetzt ist es eben nichts." (Dorothee Schneider musste sich in der Dressur-Kür mit Platz 15 zufrieden geben)

"Eigentlich wollte ich das immer für die Zuschauer machen. Das sieht ja auch cool aus. Aber das war irgendwie eine doofe Idee." (Säbelfechter Matyas Szabo verletzte sich bei einem Spagat im Team-Halbfinale)

"Das war der krankeste Wettkampf meines Lebens. Wie ein schlechter - nein, eigentlich ein ziemlich guter Film." (Patrick Hausding über die Bronzemedaille im Synchronspringen vom 3-m-Brett)

"Ich hoffe, dass sie irgendwann auch mal das Mutterdasein haben wird. Das werden wir ganz in Ruhe im nächsten Jahr angehen." (Isabell Werth über ihre Stute Bella Rose, die mit sofortiger Wirkung in Rente geht)

Zahlen des Tages

7: Aufschlagspiele von Alexander Zverev in Folge ohne Punkt für Gegner Nikolos Bassilaschwili.

8: Deutschlands obligatorischer Platz im Medaillenspiegel.

54: Punkte Vorsprung hatte Team USA gegen den Iran. Das 120:66 nennt man wohl standesgemäß.

5:41: Südafrikas Torverhältnis nach zwei absolvierten Partien im Wasserball. (Männer)

5:50: Südafrikas Torverhältnis nach zwei absolvierten Partien im Wasserball. (Frauen)

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