ATP-Finals - Was will der denn schon wieder hier? So erklärt Alexander Zverev seine Nachtschicht

Von Jannik Schneider
Alexander Zverev hat ein erfolgreiches Jahr 2021 hinter sich.
© getty

Alexander Zverev wird beim Turnier der besten acht Spieler des Jahres von Lokalmatador Matteo Berrettini voll gefordert. Dann verletzt sich der Italiener und gibt unter Tränen auf. Anstatt sich nach einer ausufernden Saison zu schonen, schiebt Zverev mitten in der Nacht Extra-Einheiten.

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Die aus italienischer Sportsicht dramatischen Szenen waren keine 30 Minuten alt, da betrat Alexander Zverev erneut den Centre Court der Pala Alpitour zu Turin, der größten Indoorhalle Italiens. Dieses Mal aber ohne 7.000 euphorische Tifosi im Hintergrund, die ihren Liebling Matteo Berrettini am Abend lautstark nach vorne gepeitscht hatten.

Lediglich Bruder Mischa und Physiotherapeut Hugo Gravil waren nun noch an seiner Seite. Im Hintergrund stellten einige Ordner ihre Arbeit ein und beobachteten perplex das Treiben: Was will der denn schon wieder hier?

Der 24-Jährige trainierte rund 20 Minuten recht intensiv. "Er hatte sich auf mindestens zwei Sätze eingestellt", begründete Mischa Zverev auf SPOX-Nachfrage, als die Geschwister die Schläger weggelegt hatten. Andere würden einen Cool Down im Gym bevorzugen, Zverev würde dagegen gerne nochmal 20 Minuten spielen.

Der Weltranglisten-Dritte und seit nunmehr fünf Jahren Deutschlands bester Tennisspieler kehrt nach Matchende in der Regel nur dann direkt auf den Platz zurück, wenn er unzufrieden mit seiner Leistung ist. Das war am Sonntagabend im ersten Match bei den diesjährigen ATP-Finals, dem Turnier der besten acht Spieler des Jahres, aber nicht der Fall.

Gegner und Fanliebling Matteo Berrettini hatte den Deutschen im Laufe des ersten Marathonsatzes (79 Minuten) zwar immer mehr gefordert, Zverev den Satz aber doch noch für sich entschieden. Nur wenige Momente später verletzte sich der Lokalmatador und musste unter Tränen und zum Entsetzen seiner Fans aufgeben.

Zverev versuchte, seinen Kontrahenten und das Publikum zu trösten und fokussierte sich anschließend rasch wieder auf sich selbst. Den 18-maligen Turniersieger kann - sportlich - so schnell nichts mehr aus der Ruhe bringen.

Zverev: Niemand gewann 2021 mehr Turniere

Zverev hat diese Saison fünf Turniere gewonnen - darunter zwei Events der prestigeträchtigen Mastersserie. Keiner hat auf diesem Niveau im Jahr 2021 mehr Events gewonnen. Der Sieg bei den Olympischen Spielen überstrahlt dabei die ohnehin sehr konstante Jahresleistung.

In Tokio besiegte er mit Novak Djokovic den momentan erfolgreichsten Spieler der Welt. Der Serbe gewann dieses Jahr drei der vier Grand-Slam-Turniere und stoppte Zverev zuletzt in der Vorschlussrunde der US Open. Der 34-Jährige, der die andere Gruppe anführt, gilt neben US-Open-Sieger Daniil Medvedev (25) in Turin als Topfavorit.

ATP Finals: Die rote Gruppe im Überblick

RangMannschaftSp.SNSätzeDiff.Matches
1Alexander Zverev1102:021:0
2Daniil Medvedev1102:111:0
3Hubert Hurkacz1011:2-10:1
4Matteo Berrettini1010:2-20:1

Doch Zverev muss sich keineswegs verstecken. Mit seiner fünften Teilnahme in Serie ist er nach Djokovic der erfahrenste Akteur, vor drei Jahren gewann er das Event in London sogar schon mal. Damals schlug er nacheinander Roger Federer und eben Djokovic.

Nach einem schwächeren Jahr 2019 mit nur einem kleineren Titel hat sich Zverev in den vergangenen zwei Jahren mit großer Konstanz und in der verletzungsbedingten Abwesenheit von Federer und Rafael Nadal zur dritten Kraft im Welttennis auf höchstem Niveau entwickelt.

Auf seine stärksten Waffen, den Aufschlag und die beidhändige Rückhand, war auch am Sonntag bis zur Verletzung verlass. Doch der Rechtshänder wollte anschließend nicht über seine zehn Asse oder die gute erste Aufschlagsquote (71 Prozent), mit der er jeden Gegner der Welt dominieren kann, sprechen.

Nachdem Zverev zunächst vier Breakchancen verstreichen ließ, spielte sich sein Kontrahent zur Freude seiner Fans zwei Satzbälle heraus. Zverev aber wehrte diese mit einem zweiten Kickaufschlag und einem äußerst knappen Ass ab, bevor er seinerseits den dritten Satzball im Tiebreak verwandelte. Dann nahm das Drama seinen Lauf.

Zverevs Gegner Berrettini mit schwerer Verletzung

Bei einer Vorhand zog sich Berrettini im zweiten Spiel des zweiten Satzes eine wohl äußerst schmerzhafte Verletzung an der Bauchmuskulatur zu. Der diesjährige Wimbledonfinalist probierte es nach einer dreiminütigen medizinischen Auszeit zwar noch einmal, doch nach nur einem Ballwechsel, besser gesagt, nach einer Vorhand war Schluss. Zverev umarmte ihn, spendete erst ihm, dann dem Publikum Trost.

"Ich fühle mich schon schlecht. Ich weiß gar nicht, wie sich Matteo jetzt fühlen muss", erklärte Zverev unmittelbar nach Matchende. "Ich hoffe, ihr Fans könnt ein weiteres Jahr auf ihn warten. Ich wünsche mir von Herzen, dass er dieses Turnier einmal gewinnt." Dann wurde der Deutsche unter warmen Applaus verabschiedet.

Erst 2021 sind die ATP-Finals nach elf Jahren von London nach Turin gewandert - Berrettini ist der Posterboy der Veranstaltung. Seine bisherigen Trainingseinheiten verfolgten hunderte von Fans. Am Sonntagabend jedoch war die Stimmung auf dem Tiefpunkt.

Während die Italiener wortkarg die Arena verließen, saß Berrettini mit tief ins Gesicht gezogener Cap in den Tiefen der Katakomben und sprach vom "schlimmsten Tennistag" seines Lebens. Am Montag sollen medizinische Scans Aufschluss über die Schwere der Verletzung geben. Die gute Nachricht für die Gastgeber: Der Südtiroler Jannik Sinner (20) ist erster Nachrücker des Events und könnte die große Lücke des Lokalmatadoren füllen.

Auf Alexander Zverev wartet am Dienstag Medvedev im zweiten Gruppenspiel. Der Russe besiegte den polnischen Debütanten Hubert Hurkacz in drei Sätzen und ist gegen Zverev klarer Favorit.

Nun wartet Angstgegner Medvedev auf Zverev

Denn: Medvedev gewann die letzten vier Vergleiche mit Zverev - vor Wochenfrist im Halbfinale des Masters in Paris gar mit 6:2 und 6:2. Zverev wiederholte am Sonntag nach dem Match gebetsmühlenartig, dass er in der französischen Hauptstadt ausgelaugt gewesen sei. Nach einer fünftägigen Pause sehe das nun wieder anders aus. Die bisherigen Trainingsleistungen in Turin untermauern das. Am Samstag verzweifelte Andrey Rublev lautstark ein ums andere Mal am Deutschen. Rublev schrie seinen Frust durch die Halle, gewann er doch kaum einen Ballwechsel.

Mit Djokovic lieferte sich Zverev später am Tag einen ausufernden Weltklasse-Ballwechsel nach dem anderen. Im Gegensatz zu diesem energetischen Auftritt hatte er am Freitagabend mit Bruder Mischa zwar konzentriert, aber auch saft- und kraftlos trainiert. Eine physische und mentale Müdigkeit bestätigt auch Physiotherapeut Gravil zwischen den Zeilen. Für diese Woche, bestätigt sein Team, könne er aber noch einmal Reserven freisetzen.

Das bewies ebenfalls der Aufritt am Sonntag bis zu Berrettinis Schicksalsmoment. Mit Blick auf Medvedev erklärte er: "Ich werde hoffentlich nicht mehr so müde sein wie in Paris. Ich habe meine Kräfte zurückerhalten und denke, es wird ein hochinteressantes Match." Auch bei einer Niederlage hätte Zverev gegen Hurkacz noch alle Chancen, die Halbfinalteilnahme zu finalisieren.

Zverev weiter mit schweren Vorwürfen konfrontiert

Fernab vom Sportlichen muss sich Alexander Zverev weiter mit schweren Vorwürfen häuslicher Gewalt auseinandersetzen. Eine seiner Ex-Freundinnen, die russische Fotografin Olya Sharypova, hat ihn in zwei Longreads in den amerikanischen Magazinen Raquet und Slate im Herbst 2020 und 2021 vor den US Open schwer beschuldigt.

Es geht um physische und psychische Gewalt. Nach langem Schweigen hat mittlerweile sogar die ATP eine offizielle Ermittlung eingeleitet. Die Spielerorganisation äußert sich aber auf Anfrage zurzeit nicht zu dem laufenden Verfahren.

Nach außen hin macht Zverev den Eindruck, als wolle und könne er das alles ausblenden für seine letzte Turnierwoche.

Seine sportlichen Ambitionen unterstrich er mit seiner Centre-Court-Rückkehr am Sonntag vor Mitternacht. So eine Aktion bringt nicht jeder auf der Tour.

Warum er sich so etwas so spät antut, erklärte er auf SPOX-Nachfrage: "Der Centre Court ist extrem viel schneller als die Trainingsplätze und ich habe bislang noch nicht so viel darauf trainieren können. Deswegen wollte ich einfach noch ein bisschen mehr meinen Rhythmus finden. Deswegen habe ich mit Mischa noch ein paar Bälle geschlagen", sagte Zverev und verabschiedete sich weit nach Mitternacht in Richtung Hotel.

Jannik Schneider ist freier Journalist und berichtet unter anderem für SPOX, die Sportschau, Zeit online und den Spiegel über Tennis. Außerdem betreibt er den Podcast Advantage.

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