Kommentar zur US-Open-Finalniederlage von Novak Djokovic: Nole verlässt New York als Sieger

Von Stefan Petri
Novak Djokovic kämpfte bei der Siegerehrung nach dem US-Open-Finale mit den Tränen.
© getty

Novak Djokovic hat das US-Open-Finale gegen Daniil Medvedev verloren. Die größte Errungenschaft im Tennissport seit vielen Jahrzehnten, der "Grand Slam", blieb ihm verwehrt, genau wie der anvisierte 21. Major-Titel. Doch in der Stunde seiner vielleicht größten Niederlage konnte der Serbe gleichzeitig einen seiner größten Siege feiern. Ein Kommentar.

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Es war der eine Moment, in dem man an diesem Abend in New York City den typischen, den berühmt-berüchtigten Novak Djokovic erwartet hätte, hochkonzentriert, mit durchdringendem Blick und grimmig-entschlossener Mine. Er hatte im dritten Satz gegen den erstmals Nerven zeigenden Medvedev ein Break geschafft und daraufhin sein Service zum 4:5 durchgebracht. Plötzlich schien das Ergebnis des Matches wieder einen Spalt weit offen - und wenn jemand die kleinste aller Chancen nutzen kann, dann ja wohl der Serbe.

Stattdessen, mitten im frenetischen Jubel der über 25.000 Fans im größten Tennis-Stadion der Welt, brach Djokovic in Tränen aus, schluchzte hemmungslos in sein Handtuch. Mit noch feuchten Augen ging er ins finale Aufschlagspiel seines Kontrahenten und auch bei der Siegerehrung konnte er die Tränen nur mit Mühe zurückhalten.

Sportlich hatte ihn der wohl unangenehmste Gegner überwältigt, auf den er in diesem Endspiel hatte treffen können: Ein taktisch perfekt eingestellter Medvedev, ohnehin in puncto (Turnier-)Siege der beste Hartplatzspieler der letzten Jahre und eine Art Angstgegner von Djokovic, in seinem dritten Major-Finale endgültig reif für den ganz großen Moment.

Körperlich und mental waren die Hatz nach dem Grand Slam, der unglaubliche Druck so kurz vor dem Ziel eine Nummer zu groß. "Ich hatte keine Beine", gab Djokovic nach dem Match zu, überhaupt sei er "erleichtert", dass sein Lauf endlich vorbei sei.

"Das ist wie im Film: Du muss ihn 27-mal umbringen und er steht trotzdem wieder auf", hatte Goran Ivanisevic nach dem Wimbledon-Titel gesagt. 27 Best-of-five-Matches hatte Djokovic 2021 gewonnen. Das US-Open-Finale war Nummer 28.

Djokovic und die Fans: Wie einst Federer im Wimbledon-Finale 2019

Emotional jedoch hatte ihn das Publikum im Big Apple, gespickt mit Hollywood-, Musik- und Sport-Größen, überwältigt, das sich von Beginn an auf seine Seite geschlagen hatte. Natürlich, die New Yorker wollten Zeuge eines historischen Augenblicks werden, aber gleichzeitig fühlten sie mit Djokovic mit, wollten den tragen, dessen Beine für einen weiteren "Mount Everest" einfach zu schwer geworden waren. Fast schon verzweifelt feierten sie im dritten Satz jeden Punktgewinn von Djokovic, bei Fehlern Medvedevs teilweise an der Grenze zur Unsportlichkeit.

Man fühlte sich ans Wimbledon-Finale von 2019 erinnert, als Roger Federer diese Ehre zuteil geworden war. Doch während Djokovic damals die "Roger! Roger!"-Rufe in seinem Kopf in "Novak! Novak"-Rufe transponieren musste, waren es diesmal tatsächlich "Nole! Nole!"-Sprechchöre im Arthur Ashe.

"Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt", erklärte er noch auf dem Court ergriffen, und bekräftigte das auf der anschließenden Pressekonferenz: "Das waren Emotionen wie bei einem 21. Grand-Slam-Sieg. Das werde ich niemals vergessen."

Novak Djokovic: Nicht Roboter, sondern Achterbahn

Zwei Dinge bemängeln die Djokovic-Kritiker seit Jahr und Tag: zum einen sein roboterhaftes Spiel, zum anderen seine verzweifelte, durchschaubare Jagd nach der Liebe des Publikums. Bei ersterem muss man längst von einem Mythos sprechen, bei dem ich ehrlich gesagt nicht weiß, wie er sich etablieren, geschweige denn so lange halten konnte. Ästhetisch mag man als Fan andere Vorlieben haben, aber wenn die Matches von Djokovic eines nicht sind, dann langweilig.

Niemand kann auf so viele verschiede Arten gewinnen, niemand stellt sein Spiel so oft um - gegen Medvedev spielte er plötzlich fast regelmäßig Serve-and-Volley -, kaum jemand zeigt seine Emotionen und Sinneswandlungen so offen wie er. Grenzüberschreitungen inklusive. Die besten Djokovic-Matches gleichen eher einer "Achterbahnfahrt", mit den Zuschauern in der ersten Reihe.

Auch die These vom nach Zuneigung bettelnden Djokovic hat in den letzten Jahren ein starkes Eigenleben entwickelt. Bei so ziemlich jedem Match wurde sie von den Kommentatoren aus der Mottenkiste geholt, ob das Publikum nun deutlich auf der Seite seines Gegners war oder auch nicht, und zerpflückt: Warum lieben sie ihn nicht so sehr wie Rafa und Roger? Weil er der Party-Crasher war? Aufgrund seiner Wurzeln in Osteuropa? Und, und und.

Mir persönlich ging das immer ein bisschen zu weit, das muss ich zugeben. Nicht nur deswegen, weil die Diskussion oft verkennt, wie groß die "NoleFam" in vielen Teilen der Welt wirklich ist. Sondern auch, weil dieses vermeintliche Streben des Serben nach öffentlicher Zuneigung nie dazu führte, dass er sich selbst untreu geworden wäre.

Novak Djokovic hat die Herzen des Publikums endlich gewonnen

Zumindest abseits des Courts hätte sich Djokovic mit Hilfe zahlreicher, hochbezahlter Medienberater problemlos ein glattpoliertes, makelloses Image aufbauen können, das eines witzigen, smarten, polyglotten Familienvaters. Stattdessen lässt der 34-Jährige die Beobachter so nah an sich heran wie sonst vielleicht nur Naomi Osaka bei den Damen und scheut auch vor kontroversen Aussagen und Aktionen nicht zurück, von der Gründung einer Spielergewerkschaft bis hin zu mehr als zweifelhaften Aussagen über Impfstoffe und esoterischen Tendenzen. Es gibt mit Sicherheit einfachere Wege in die Herzen der weltweiten Tennisfans.

Im Finale am Sonntag haben sich diese vermeintlichen Widersprüche für mich versöhnt. Wie viel Djokovic die Unterstützung, ja, die Liebe des Publikums bedeutete, war in seinem Gesicht zu lesen. Es wird am Ende sogar ihn selbst überrascht haben, dass dieses Glücksgefühl so stark war, dass es sogar den Schmerz der bittersten Niederlage seiner Karriere zu lindern vermochte.

Was sie aber besonders süß schmecken ließ, war die Tatsache, dass er sie auf seine eigene Art und Weise erobert hatte, auf seinem eigenen Weg. Ohne sich zu verstellen, mit all seinen Ecken und Kanten. Sie feierten bei der Siegerehrung nicht den Champion, den Tennis-Gott Novak Djokovic, sondern den Menschen, den Weinenden, den Gescheiterten.

Der 21. Grand-Slam-Titel für Djokovic, er lässt erst einmal auf sich warten. Gewonnen hat er stattdessen die Herzen des Publikums. Wie viel ihm dieser Sieg letztlich bedeutete, sagt vielleicht mehr über ihn aus als jeder weitere Rekord.

Novak Djokovic: Grand-Slam-Bilanz seiner Karriere

JahrAustralian OpenFrench OpenWimbledonUS Open
20051. Runde2. Runde3. Runde3. Runde
20061. RundeViertelfinaleAchtelfinale3. Runde
2007AchtelfinaleHalbfinaleHalbfinaleFinale
2008SiegHalbfinale2. RundeHalbfinale
2009Viertelfinale3. RundeViertelfinaleHalbfinale
2010ViertelfinaleViertelfinaleHalbfinaleFinale
2011SiegHalbfinaleSiegSieg
2012SiegFinaleHalbfinaleFinale
2013SiegHalbfinaleFinaleFinale
2014ViertelfinaleFinaleSiegHalbfinale
2015SiegFinaleSiegSieg
2016SiegSieg3. RundeFinale
20172. RundeViertelfinaleViertelfinale-
2018AchtelfinaleViertelfinaleSiegSieg
2019SiegHalbfinaleSiegAchtelfinale
2020SiegFinalenicht ausgetragenAchtelfinale
2021SiegSiegSiegFinale
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