Das Märchen von Willbom90

Marcus Willis, Nummer 772 der Welt, trifft in Runde zwei auf Roger Federer
© getty

Als Nummer 772 der ATP-Weltrangliste ist Marcus Willis das Unglaubliche geglückt. Einmal Wimbledon spielen, sogar eine Runde gewinnen. Als Belohnung wartet in Runde zwei nun Roger Federer.

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258 Pfund Preisgeld hat Marcus Willis in diesem Jahr bisher verdient. Ein Taschengeld, allerhöchstens. Der 25-Jährige ist die Nummer 23 der Tenniswelt - der Tenniswelt Großbritanniens wohlgemerkt.

Bestes Ergebnis 2016? Ein Viertelfinale bei einem Future in Tunesien.

Einmal Wimbledon spielen? An seinen Kindheitstraum glaubte er zuletzt selbst nicht mehr. Als Willis aber am Sonntag in der Qualifikation zum dritten Mal Regen, Wind und dem Gegner trotzte, da explodierten die Timelines.

Marcus who? Im Wimbledon-Hauptfeld? Auch Andy Murray gratulierte seinem Landsmann. Und für Willis, hauptberuflich Tennistrainer im Warwick Boat Club, buchbar für 36 Euro die Stunde, war bereits das Quali-Preisgeld der größte Scheck seines Profi-Lebens. Dabei wollte Willis, der noch bei seinen Eltern lebt, schon aufhören mit dem Tennisspielen.

Als Junior mit Murray trainiert

In der Jugend trainierte der Linkshänder mit Murray und durfte als Hitting Partner einige Male beim Davis Cup dabei sein."Als Junior, ja, da war ich talentiert. Ich wurde hochgelobt", sagt er: "Doch dann wurde ich ins echte Leben katapultiert. Ich spielte ein paar Jahre in Rumänien, verlor immerzu. Ich hatte kaum noch Selbstvertrauen, traf einige schlechte Entscheidungen und ging zu viel feiern."

Sein Lebenswandel, sagt er heute, war nicht gut: "Ich hatte nicht den Drive, Profi zu sein." Und er wurde immer runder. In den USA nannte ihn ein Fan schließlich Cartman, nach der übergewichtigen Figur von Southpark. "Es war lächerlich. Ich war massiv übergewichtig, kam dennoch ins Viertelfinale dieses Challengers und gewann im dritten Satz. Ich war dennoch ein Loser."

Cartman - und nun Wimbledon

Vor drei Jahren zog er die Reißleine. Da waren Uni-Gegner, frühere Trainer und einige Freunde schon sicher, der damals 22-Jährige habe sein Talent vollkommen verschleudert. Doch er begann ganz von vorn.

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Unzählige Fitnesseinheiten mit seinem Coach Matt Smith zu unchristlichen Zeiten. "Ich rannte mich selbst in Grund und Boden", sagt Willis. Ende des Jahres 2015 zerrte er sich zum wiederholten Mal den Oberschenkel. Noch einmal zurückkämpfen, um selbst etwas zu erreichen? "Ich kam nicht mehr aus dem Bett. Ich war richtig schlecht drauf und war sehr nah dran hinzuwerfen."

"I met a girl..."

In den Jahren zuvor hatte er sich nur noch als Klubspieler verdingt. "Ich gab Tennisstunden, spielte in der französischen und deutschen Liga. Und ich war felsenfest überzeugt, nach Amerika zu gehen und dort zu coachen. Doch dann traf ich eine Frau."

Jenny. Seit einem Elli-Goulding-Konzert zu Jahresbeginn 2016 ist die Zahnärztin Willis' Freundin. "Es war Liebe auf den ersten Blick", so Willis. "Und dann sagte Sie mir, ich sei ein Idiot und solle gefälligst mit dem Tennis weitermachen."

Unverschämtes Glück

Er hörte auf sie, sagte den Trainerjob in Philadelphia ab, den er am 13. Juni antreten sollte. Und hatte ungehöriges Glück.

Ins Teilnehmerfeld der britischen Prequalifyings rutschte Willis nur, weil Scott Claytons Flieger ihn nicht rechtzeitig vom Future in Antalya auf die Insel brachte. Doppelspezialist David Rice, dem Claytons Platz eigentlich zugestanden hätte, fiel knapp aus den Rankings. So rückte Marcus Willis nach.

Drei Siege später startete er mit einer Wildcard in die Wimbledon-Quali: In Roehampton traf die Nummer 772 der Welt mit Yuichi Sugita und den hochtalentierten Russen Andrey Rublev und Daniil Medvedev auf Spieler, die allesamt mehr als 500 Weltranglistenplätze vor ihm liegen. Zwei Mal holte Willis einen Satzrückstand auf.

"Alles Jenny zu verdanken"

"In der Vergangenheit war ich ein übergewichtiger Verlierer", sagt Willis unumwunden. "Willbom90" nennt er sich in den sozialen Netzwerken und nimmt sich so selbst auf die Schippe. "Jetzt ist ein unfassbarer Traum wahr geworden. Das alles habe ich nur dieser Frau zu verdanken."

Die Hochgelobte saß also am Montag in Willis' Box auf Platz 17, eingewickelt in einen Union Jack, umrahmt von Willis' Mutter und seinen Kumpels von der Loughborough University. Sie skandierten "Willbom's on fire, Berankis is terrified...!" Jennifer, die ihre Praxis an diesem Montagnachmittag vorzeitig geschlossen hatte, strahlte - und bekam den Siegerkuss. "Seit ich sie getroffen habe", schwärmt Willis, "ist alles echt gut gelaufen, mein Kopf ist kein Problem mehr."

Wimbledon geht in die zweite Runde, Willis' Traumreise in die dritte Woche. Und die Cinderella-Story ist noch nicht vorbei. Sein 6:3, 6:3, 6:4-Sieg über den Letten Ricardis Berankis war Willis' erster Auftritt auf Tour-Level überhaupt. Es war der Erstrundenerfolg mit dem größten Ranking-Unterschied, No. 772 vs. No. 54. Als Belohnung bekommt der Local Hero nun das Match seines Lebens.

Willbom vs. Federer

Gegen den siebenfachen Wimbledon-Champion. Den 17-fachen Grand-Slam-Sieger. Auf dem Centre Court. Roger Federer wird das Ende für Willis' Märchen bedeuten. Und gleichzeitig den absoluten Höhepunkt seiner ungewöhnlichen Tenniskarriere.

"Es ist ein unfassbarer Traum, der da wahr wird. Ich werde auf einem Stadion-Court spielen", sagt Willis und scherzt: "Ich bin nicht sicher, ob er auf Rasen spielen kann.

Und Federer? Der ist nicht gerade terrified, reagiert aber großartig wie immer. "Diese Story hat viele coole Kapitel", sagt er, "es wäre toll, wenn er mir ein bisschen darüber erzählen könnte, wie das alles passiert ist."

Willis könnte vorrechnen, dass zu der Handvoll verdienter Pfund vom Viertelfinale in Tunesien jetzt 60.400 Euro dazukommen. Davon kann er endlich ein paar der Kreditkarten ausgleichen, endlich Rechnungen bezahlen.

Willis ahnt, was gegen FedEx auf ihn zukommt. "Ich werde rausgehen und versuchen, dieses Tennis-Match zu gewinnen. Werde ich vermutlich nicht schaffen. Dürfte ich normalerweise nicht. Aber ich werde alles geben, wie in den letzten sieben Spielen auch."

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