PSG-Star Julian Draxler im Interview: "Ich musste mir von meinen Nachbarn anhören, dass ich scheiße bin"

Von Daniel Herzog
SPOX und DAZN trafen Julian Draxler zum Interview.
© DAZN
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Wie wichtig war U19-Trainer Norbert Elgert für Ihre Entwicklung?

Draxler: Ich war nicht mal ein Jahr bei ihm, weil Felix Magath mich schon Anfang 2011 zu den Profis hochgezogen hat - und trotzdem könnte ich so viele Geschichten über ihn erzählen, das ist Wahnsinn. Wenn ich darüber nachdenke, wie sehr er mich geprägt, was er für Werte vermittelt hat, kenne ich im Fußball niemand Vergleichbaren. Bei ihm geht es nicht nur um Fußball. Von ihm nimmt man auch andere Dinge mit. Zum Beispiel, wie man sich zwischenmenschlich zu verhalten hat, wie eine Gesellschaft funktionieren sollte - solche Sachen. Norbert Elgert ist ein Riesen-Vorbild. Natürlich ist er auch sportlich eine Koryphäe, insbesondere taktisch. Bei mir ist aber mehr hängengeblieben, wie er als Mensch ist.

Erinnern Sie sich an ein konkretes Erlebnis, in dem er Ihnen etwas fürs Leben mitgegeben hat?

Draxler: Es sind Kleinigkeiten. Als junger Fußballer ist man egoistisch, will seinen Weg gehen und seine persönlichen Ziele erreichen. Norbert Elgert wollte zwar, dass man hin und wieder seine Ellenbogen einsetzt, bei ihm stand aber immer der Teamgedanke im Vordergrund. Ich kann mich an eine ganz passende Geschichte erinnern.

Erzählen Sie.

Draxler: Nach einer Weihnachtsfeier waren wir kurz bei ihm zu Hause in Schermbeck. Im Eingangsbereich hingen überall Bilder und zunächst habe ich mir gar nichts dabei gedacht. Letztlich hatte jedes einzelne Bild eine wichtige Bedeutung. Zum Beispiel hing da eines, auf dem ganz viele Zugvögel abgebildet waren, die auf ihrem Weg in den Süden sind. Im ersten Moment fragt man sich, warum er sich diese Vögel an die Wand hängt. Dann kommt er dazu und fragt: 'Wie viele Vögel siehst Du da?' Keine Ahnung. 500? Oder 1000? Das kann man ja schwer einschätzen. Dann fragt er: 'Was meinst Du, wie viele von denen alleine im Süden ankommen würden?' Auf sich allein gestellt? Wahrscheinlich keiner. 'Richtig, alleine wäre der Vogel bei der ersten Sturmböe weg, aber zusammen schaffen es die Vögel in den Süden.' Da sieht man einfach, wie dieser Mensch tickt, welche Gedanken er sich macht.

Gab es für Sie einen prägenden Moment, in dem Sie gemerkt haben, dass Sie es zum Profi schaffen können?

Draxler: Das Schlüsselerlebnis war für mich ein U15-Turnier in Spanien. Da waren zig namhafte Mannschaften dabei: Real Madrid, der FC Barcelona, Paris Saint-Germain und der FC Arsenal zum Beispiel. Bei diesem Turnier wurde ich Torschützenkönig und als bester Spieler ausgezeichnet. Ich war 14 oder 15 Jahre alt. Danach habe ich mir gedacht: Da waren jetzt alle Top-Klubs dabei und ich konnte mithalten. Dann brauche ich mich vor niemandem verstecken. Jetzt geht es nur noch in eine Richtung.

Julian Draxler: "Hallo, ich bin Julian. Ich soll heute hier trainieren"

Mit 16 trainierten Sie zum ersten Mal mit den Profis. Wie aufgeregt waren Sie?

Draxler: Extrem. Es ging aber weniger ums Fußballspielen. Es ging darum, wie der erste Weg in die Kabine abläuft, wie man die Spieler begrüßt. Ein, zwei Jahre zuvor stand ich ja noch neben dem Trainingsplatz und habe mir die Einheiten angeschaut.

Wie lief es dann ab?

Draxler: Ich habe im Vorfeld mit meinem Papa im Auto gesprochen. Ich konnte ja nicht in die Kabine gehen und Jermaine Jones mit Herrn Jones ansprechen. Solche Sachen hatte ich wirklich im Kopf. Letztlich habe ich dann einfach nur gesagt: 'Hallo, ich bin Julian. Ich soll heute hier trainieren.' Ich habe mich nur vorgestellt und es vermieden, die Spieler direkt anzusprechen, weil ich nicht wusste, ob ich sie siezen oder duzen soll. Als Raul, der gerade frisch nach Schalke gekommen war, plötzlich vor mir Stand, ist mir dann die Spucke weggeblieben. Ich wollte auf Englisch sagen: 'Hello, I am Julian.' Da kam aber nur Genuschel raus. Ich habe ihm kurz die Hand gegeben, bin schnell weitergangen, habe mich hingesetzt und die Klappe gehalten.

Warum hat Raul Sie so sehr fasziniert?

Draxler: Ich mochte ihn schon immer. Wenn ich Real Madrid früher in der Champions League gesehen habe, stand er auf dem Platz, irgendwann sogar als Kapitän der Galaktischen. Und plötzlich steht derselbe Mensch in der Kabine neben dir, da musst du dich schon kneifen. Du fragst dich im ersten Moment, wie es Felix Magath wohl geschafft hat, dass Raul jetzt für Schalke spielt. Und im nächsten Moment fragst du dich, wie du es eigentlich geschafft hast, gerade mit ihm in einer Kabine zu sein.

Haben Sie Raul irgendwann mal angesprochen?

Draxler: Das habe ich mich damals nicht getraut. Ich habe aber irgendwann gemerkt, dass er sehr früh begriffen hat, dass ich ein großes Talent bin. Ich habe ja auch relativ früh in der Bundesliga gespielt. Raul spielte damals meistens auf der Zehnerposition und ich auf der linken Außenbahn. Er wusste, dass er mich auf den richtigen Weg bringen muss, damit ich ihm Vorlagen gebe und das Zusammenspiel passt. Ich habe alles von ihm aufgesaugt und in erster Linie versucht, mein Spiel so zu verändern, dass er mit mir zufrieden ist. Wenn er gesagt hätte, ich sei noch nicht so weit, hätte ich vermutlich keine Rolle mehr gespielt. Ich habe ihn im Nachgang von Trainingseinheiten oder Spielen gefragt, welchen Laufweg ich machen soll, wenn er den Ball hat, welches Zuspiel er haben möchte, wenn ich den Ball habe. Er hat dann gemerkt, dass ich von ihm lernen wollte. Heutzutage gibt es viele 17-, 18- oder 19-Jährige, die denken: Ich mache das schon irgendwie. Bei mir war es genau andersherum. Daraus ist dann irgendwann eine Freundschaft entstanden.

Haben Sie noch Kontakt?

Draxler: Ja. Es ist zwar nicht so, dass wir jede Woche miteinander telefonieren. An unseren Geburtstagen oder an denen seiner Frau schreiben wir aber miteinander oder sehen uns sogar. Ich bin sehr stolz, dass ich Raul meinen Freund nennen darf.

Julian Draxler spielt seit Januar 2017 für PSG.
© getty
Julian Draxler spielt seit Januar 2017 für PSG.

Julian Draxler: "Meinen ersten Schluck Alkohol habe ich getrunken, nachdem wir das Pokalfinale gewonnen hatten"

Als Sie bei Schalke debütierten, waren Sie noch Schüler. Felix Magath hat Ihnen empfohlen, die Schule abzubrechen, Sie haben es nicht gemacht. Wie lief die Entscheidungsfindung?

Draxler: Es war extrem schwierig für mich. Wichtig ist: Felix Magath hat mich zu keiner Zeit dazu gedrängt oder gar gezwungen, die Schule abzubrechen. Er hat aber gesagt, dass er bei mir das Potenzial sieht, regelmäßig zu spielen und dass es schwierig werden könnte, drei Wettbewerbe mit Schalke und die Schule unter einen Hut zu kriegen. Er hat mich zu dieser Zeit gerade auf dem Weg in die erste Elf gesehen und mir daher empfohlen, die Schule zu unterbrechen. Ich war hungrig, hatte Lust aufs Fußballspielen und wollte die Schule dann tatsächlich unterbrechen. Das ging aber nicht.

Warum nicht?

Draxler: Weil ich das Schuljahr schon angefangen hatte. Erst hat sich das Familienministerium eingeschaltet, dann das Schulministerium und später ging es bis in die Politik. Letztlich habe ich es irgendwie geschafft, auf Schalke zu spielen und auf der Gesamtschule Berger-Feld mein Fachabitur zu machen. Das war eine ziemlich turbulente Zeit. Meine Eltern wurden teilweise so dargestellt, als wären sie nicht verantwortungsvoll. Da ist schon viel auf mich und meine Familie eingeprasselt. Man muss sich das mal vorstellen: Man arbeitet jahrelang auf etwas hin, dann ist man kurz davor, Fuß zu fassen, und soll sagen: Ich kann morgen früh nicht trainieren, weil ich zur Schule muss. Ganz ehrlich: Ich hatte nur Fußball im Kopf und wollte mich nicht mit Kunstunterricht befassen. Für Außenstehende ist es vielleicht sehr schwer zu verstehen und ich würde grundsätzlich auch jedem empfehlen, die Schule abzuschließen und einen guten Abschluss zu machen, aber in meinem speziellen Fall war das schon grotesk. Felix Magath sagt dir, dass du nah dran bist, du spielst an der Seite von Raul vor 60.000 Fans und musst am nächsten Morgen in die Schule. Das war schon ein bisschen verkehrte Welt.

Können Sie der Zeit heute etwas Positives abgewinnen?

Draxler: Definitiv. Heute bin ich unheimlich froh, dass ich die Schule durchgezogen habe und nach meiner Karriere keine Abendschule besuchen muss.

Ein normales Teenagerleben haben Sie damals sicher nicht geführt.

Draxler: Nein, gar nicht. Ich habe mir immer gesagt, dass ich nie auf eine Party gehen werde, bis ich mein erstes Profispiel gemacht habe. Und das war tatsächlich so. Meinen ersten Schluck Alkohol habe ich getrunken, nachdem wir das Pokalfinale gewonnen hatten. Danach bin ich auch erstmals feiern gegangen. Vorher gab es für mich nur Schule, Training, Schule, Training, Schule, Training. Ich hatte natürlich meine Jungs, aber unser Weg ist irgendwann auseinandergegangen. Die anderen haben irgendwann Dinge ausprobiert, sind feiern gegangen, während ich dafür keine Zeit hatte, weil ich durch den Fußball auch an den Wochenenden unterwegs war und nebenbei die Schule machen musste. Irgendwann habe ich natürlich auch angefangen, mal abends rauszugehen, aber das kam bei mir sehr, sehr spät.

Haben Sie das Gefühl, etwas verpasst zu haben?

Draxler: Ich weiß, dass ich etwas verpasst habe. Eventuell sogar die Zeit, die andere als die coolste und spannendste Zeit ihres Lebens beschreiben würden. Aber ich bereue es nicht und würde mich tausendmal mehr ärgern, wenn ich das große Ziel Profifußballer verpasst hätte.

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