Kerber: Meckern auf extrem hohem Niveau

Angelique Kerber
© getty

Angelique Kerber übernahm dank der Turnierabsagen von Serena Williams wieder die Führung in der Weltrangliste. Die Deutsche wurde als schlechteste Nummer eins aller Zeiten bezeichnet. Doch solche Kommentare hat Kerber nicht verdient.

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Als Angelique Kerber die US Open gewann und im Anschluss erstmals den Tennisthron bestieg, wurde die Deutsche mit Lobeshymnen überschüttet. Ein halbes Jahr später hat Kerber gerade ihre zweite Phase als Nummer eins im WTA-Ranking eingeläutet und bekommt nun gegenteilige Reaktionen zu spüren. Als "schlechteste Nummer 1 aller Zeiten", "unwürdige Nummer 1" oder "Antispielerin als Nummer 1" wurde Kerber auf unserer Facebook-Seite nach ihrem Achtelfinal-Aus in Indian Wells gegen Elena Vesnina, die sich schließlich auch den Titel holte, bezeichnet.

Hat Kerber solche Kommentare verdient? Absolut nicht! Ist sie eine unwürdige oder gar die schlechteste Nummer eins? Absolut nicht! Doch schauen wir uns die Fakten an: Kerber ist nicht durch Glück die Nummer eins geworden, sondern wegen eines starken Jahres 2016. Die Deutsche triumphierte bei den Australian Open und den US Open, gewann das Turnier in Stuttgart und stand im Endspiel in Wimbledon, in Cincinnati und in Brisbane. Selbst wenn Serena Williams ihre Saison nach den US Open nicht abgebrochen hätte, wäre Kerber höchstwahrscheinlich die Nummer eins zum Jahresende gewesen.

Vergleich mit Serena hinkt

Kerber ist und war eine würdige Nummer eins, weil sie in den letzten 52 Wochen die besten Resultate erzielt hat. Punkt! Dass Serena Williams seit Jahren nur noch ausgewählte Turniere spielt und das WTA-Ranking so funktioniert, wie es nun mal funktioniert, ist nicht ihre Schuld. Zudem ist der spielerische Vergleich zwischen Kerber und der Jahrhundertspielerin Serena Williams kein zielführender. Da schneidet keine aktuelle Spielerin besonders gut ab. Das Head-to-head zwischen Williams und Maria Sharapova lässt grüßen.

Übrigens: Für das Erreichen des olympische Finales in Rio de Janeiro bekam Kerber keine Weltranglistenpunkte, so wie es noch 2004 und 2008 der Fall war, sonst wäre sie bereits vor Miami wieder die Nummer eins geworden. Kerbers Aufstieg zur Weltranglisten-Ersten kam nicht urplötzlich, denn sie steht nun seit fast fünf Jahren durchgängig in den Top Ten. Mit den Leistungen aus dem Jahr 2016 wäre sie auch in so mancher Saison bei den Herren, vor der Ära der "Big Four", die Nummer eins geworden.

Der Vergleich mit Wozniacki & Co.

Wenn man wirklich das Fass aufmachen möchte, eine Spielerin als schlechteste Nummer eins der Welt zu bezeichnen, dann sollte man sich um den Vergleich bemühen. Caroline Wozniacki hat bislang 25 WTA-Titel gewonnen, 15 mehr als Kerber, und führte 67 Wochen lang die Weltrangliste an. Dennoch würde Wozniacki dies sicherlich gegen die Erfolge der Deutschen eintauschen. Ana Ivanovic (12 Wochen Nummer eins, ein Grand-Slam-Titel), Jelena Jankovic (18 Wochen Nummer eins, kein Grand-Slam-Titel) und Dinara Safina (26 Wochen Nummer eins, kein Grand-Slam-Titel) schneiden im Vergleich mit Kerber ebenfalls deutlich schlechter ab.

Ein kleines Geschmäckle bleibt natürlich bei der Ranglistenarithmetik, wenn eine Spielerin, die bei den letzten zehn Turnierstarts keinen Titel gewinnen konnte, wieder die Nummer eins der Welt wird. Kerber wird noch einige Wochen vom aktuellen Ranglistensystem profitieren. Dieses Dilemma kann es immer wieder geben. So würde Andy Murray vermutlich bis Wimbledon die Weltrangliste anführen, auch wenn er bis dahin kein Match mehr gewinnen sollte. Kerber spielt mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, und sie macht seit Jahren fast das Beste draus. Eine Underachieverin, also eine Spielerin, die in ihrer Karriere weit unter ihren Möglichkeiten bleibt, ist die Deutsche keineswegs, eher das Gegenteil. Sie ist und wird nie eine Spielerin sein, die ihre Gegnerinnen vom Platz fegt, sondern diese niederkämpft. Das darf man ihr nicht zum Vorwurf machen, sonst müsste man auch Spieler wie Lleyton Hewitt und Michael Chang kritisieren.

Mit Stolz und Genugtuung

Egal, was noch kommt: Wenn ihre Karriere vorbei ist, kann Kerber mit Stolz und Genugtuung auf das Erreichte zurückblicken, gerade im Hinblick darauf, wie steinig der Weg zu Karrierebeginn war. Es ist schon ein wenig absurd, dass Tennis-Deutschland nach der Ausnahmesportlerin Steffi Graf eine zweite Nummer-eins-Spielerin hat und trotzdem gemeckert wird. Es ist Jammern auf extrem hohem Niveau. Kritik ist natürlich angebracht und auch wichtig, sie sollte aber im Rahmen bleiben und sich an den Fakten orientieren. Sollte Keber auch in Miami früh scheitern, wird es mit Sicherheit wieder Häme und unangebrachte Kommentare geben.

Doch die Zeiten, in denen man sich in Deutschland nach einer Spielerin wie Angelique Kerber sehnt, könnten schneller kommen, als man glaubt. Denn um das deutsche Damentennis ist es derzeit nicht allzu gut bestellt, und hoffnungsvolle Nachwuchstalente sind auch nicht in Sicht. Gerade deshalb sollte man sich am Nummer-eins-Status von Kerber erfreuen, solange er anhält.

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