"Das ist der absolute Hammer"

Denis Istomin schaffte mit dem Funfsatzerfolg die bisher größte Sensation der laufenden Australian Open
© getty

Erdbeben in Down Under: Nach dem überraschenden Aus von Seriensieger Novak Djokovic gegen Denis Istomin ist nicht nur das Herren-Draw erschüttert. Die Krise der ehemaligen Nummer eins der Welt hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Darauf kann sich auch Ex-Coach Boris Becker keinen Reim machen.

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Als in der Rod Laver-Arena das letzte Australian Open-Stündlein für Novak Djokovic zu schlagen begann, da saß Boris Becker im Spielerrestaurant, in den Katakomben des Stadions.

Seit ein paar Wochen ist Becker nicht mehr der Chefcoach des Melbourne-Titelverteidigers, vor Ort kümmert sich er sich als TV-Experte für Eurosport nun um Analysen über Stars und Sternchen. Aber was Becker auf dem Bildschirm sah, das Straucheln und Stolpern und Scheitern seines ehemaligen Mannes, ließ auch ihn zunächst ratlos zurück, sehr ratlos sogar: "Alle sind im Moment perplex, ich aber ganz besonders", gab Becker zu Protokoll, "Novak war überhaupt nicht richtig da. Er war viel zu passiv, viel zu defensiv."

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Es war nichts weniger als einer der größten Sensationen der modernen Tennisgeschichte, über die Becker da sprach - der eine Teil des Siegesduos "Beckovic", das drei sonnige Jahre lang kräftig Trophäen und Titel im Wanderzirkus abgeräumt hatte. Doch von dieser Dominanz, von dieser Souveränität, von dieser Selbstgewissheit und Leichtigkeit war Djokovic, der ehemalige Capitano, Lichtjahre entfernt an diesem denkwürdigen 19. Januar 2017.

"Ich habe nie einen Rhythmus gefunden"

Sicher, Djokovic galt nach Problem-Monaten im letzten Spätsommer und Herbst als angeschlagen, schließlich hatte er nach einer Sinn- und Ergebniskrise auch Platz eins der Weltrangliste verloren: Doch dass der unlängst noch alles und alle überragende Frontmann in Runde zwei des australischen Grand-Slam-Turniers gegen die Nummer 117 der Charts, gegen den Usbeken Denis Istomin, verlor (6:7, 7:5, 6:2, 6:7 und 4:6), und zwar nicht unglücklich, sondern komplett verdient, das war schlichtweg schockierend. "Ich habe nie einen Rhythmus gefunden. Aber ich ziehe meinen Hut vor ihm", sagte Djokovic hinterher, eben auch über seinen Bezwinger Istomin, einen Mann, der gewöhnlich auf der zweitklassigen Challenger-Tour unterwegs ist und nur dank einer Wild Card ins Hauptfeld gelangte.

Djokovis Sturz, er war einerseits ein persönliches Rätsel, aber er bedeutete auch eine seismische Erschütterung für dieses Turnier und für den ganzen Tenniskosmos. "Die Australian Open haben sich gerade komplett verändert. Und es gibt eine neue Weichenstellung für das Jahr", sagte Becker. In der Tat: Mit Djokovics unzeitigem Sturz schien erst einmal die Führungsposition für den Schotten Andy Murray über viele weitere Monate zementiert, der mögliche Anfang eines Comebacks von Djokovic hinauf auf den Tennisthron war schon im Ansatz kläglich steckengeblieben.

Und eine ganz andere Frage stellte sich nun eher, nach dem Debakel des Serben an seinem Lieblings-Schauplatz, am Ort seiner sechs erfolgreichen Titelmissionen - eine Frage, die Becker unterschwellig andeutete: War Djokovic überhaupt noch der erste Herausforderer für Murray - oder gibt es nun neue Gesichter und Rivalen, die "Sir Andy" gefährlich werden können? Fakt jedenfalls ist: Bis zu den French Open hat der taumelnde Djoker dicke Punktepakete zu verteidigen, es könnte also für den neuerdings unberechenbar labilen Championspieler weiter abwärts gehen.

"Ich kann das, ehrlich gesagt, immer noch nicht fassen"

Seit dem historischen French Open-Sieg der Vorsaison ist Djokovics Tenniswelt rasch und brutal aus den Fugen geraten - daran ändern auch die späteren Finalteilnahmen bei den US Open 2016 und bei der WM in London nichts. Alles, was vorher Djokovis Regime im Tourbetrieb ausmachte, wirkt nun wie Zauber von gestern: Die extrem hohe Intensität im Spiel, der Instinkt bei den Big Points, der zupackende Wille - all das ist irgendwie auf der Strecke geblieben nach dem Pariser Coup, mit dem er, der Sonnenkönig, sich seinen letzten großen Traum als Berufsspieler erfüllt hatte.

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Eben noch bewundert für sagenhafte Konstanz, für den unvergleichlichen Punch, für Ausdauersiege in stundenlangen Marathons, wirkt es nun schon fast wunderlich, wie schroff der Leistungseinbruch bei dem Mann aus Belgrad zu Tage tritt. Und wie schwankend er plötzlich erscheint, ein Achterbahnfahrer, der nach dem einigermaßen fulminanten Doha-Sieg gegen Murray nun auf entscheidender großer Bühne, auf Grand-Slam-Niveau, ins Mittelmaß abglitt.

Von wegen Djokovic-Aura, von wegen Selbstbewusstsein: Selbst einen 2:1-Satzvorsprung konnte der Weltranglisten-Zweite nicht nach Hause spielen gegen Istomin. Der, das sei angemerkt, hatte in der Saison 2016 nur ein einziges Mal zwei Matches hintereinander gewonnen, auf Wimbledons grünen Tennisfeldern. Kein Wunder, dass der von seiner Mutter Klaudia trainierte Veteran selbst am meisten über den Centre Court-Coup verblüfft war: "Ich kann es, ehrlich gesagt, immer noch nicht fassen. Das ist der Hammer."

Umso mehr, da er, der Überraschungsmann, ab dem dritten Satz immer wieder von Krämpfen geplagt wurde und sich mit leidenschaftlicher Moral ins Ziel retten musste. Doch genau damit hatte er den zählenden Vorteil gegenüber Djokovic, dem schlicht und einfach der nötige Biss fehlte. "Nun steht Novak noch mehr unter Druck", befand Becker, "denn der Sieg in Melbourne war immer ein gutes Fundament für das restliche Jahr. Er hatte schon einen großen Titel in der Tasche, und deshalb war auch der größte Druck weg."

Nicht mehr der Djokovic, der er war

18 mal Finale, vier mal Halbfinale, einmal Viertelfinale und einmal eine dritte Runde - so lautete Djokovics Grand-Slam-Bilanz seit den ersten Tagen der Saison 2011. Und nun, Zweitrunden-Aus gegen Denis Istomin, die erste Niederlage überhaupt gegen einen Spieler jenseits der Top 100, es blieb, jenseits aller Erklärungsversuche, "total unfassbar", wie Ex-Star Jim Courier anmerkte. Becker, der oberste Übungsleiter der Jahre 2014 bis 2016, hatte Djokovic nachgerufen, er habe es im letzten Herbst auch ein wenig in der Trainingsarbeit schleifen lassen.

Aber war das nun die eigentliche Ursache für das aktuelle Scheitern? Oder Beckers Abgang und die gelegentliche Hinwendung Djokovics zu Ideen eines spanischen Mentalgurus namens Felipe Imaz? Djokovic machte einen fitten Eindruck, er war wohl auch motiviert für den Zweitrundeneinsatz. Nur seine neue Verkrampftheit und eine gewisse Leblosigkeit konnte er nicht nachhaltig lösen, als er dann auf dem Platz stand, im Duell Mann gegen Mann.

Er kann im Moment tun und lassen, was er will. Aber er ist, in jeder Beziehung, nicht mehr der Novak Djokovic, der er noch vor einem Jahr war.

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