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Erschöpfung und Erbrochenes in New York

tennisnet.com blickt auf das legendäre Viertelfinale bei den US Open 1996 zurück, als Pete Sampras zum Krieger wurde.

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 05.09.2016, 09:00 Uhr

5 Sep 1996: Pete Sampras vomits during his match with Alex Corretja of Spain at the US Open in Flushing Meadows, New York.

Von Christian Albrecht Barschel

Die US Open sind bekannt für ihre speziellen und schwierigen Verhältnisse. Laute Zuschauer, Flugzeuglärm über der Anlage in Flushing Meadows, schwül-heiße Temperaturen und eine hohe Luftfeuchtigkeit machen es den Spielern nicht gerade einfach. In New York schaffen es nur die Härtesten und Fittesten zum Turniersieg. Beim US-Open-Turnier 1996 musste Pete Sampras diesen Verhältnissen beinahe Tribut zollen, als er im Viertelfinale gegen Alex Corretja wegen totaler Erschöpfung kurz vordem Knockout stand. Doch der US-Amerikaner biss sich durch und gewann dieses karriereprägende Match mit 7:6 (5), 5:7, 5:7, 6:4, 7:6 (7). tennisnet.com blickt auf das legendäre Duell zurück.

Duell der gegensätzlichen Spielstile

Die Verhältnisse im Viertelfinale an diesem schwülwarmen 5. September 1996 in New York sind klar verteilt. Sampras ist als Nummer eins der Welt, siebenfacher Grand-Slam-Champion und Titelverteidiger bei den US Open der klare Favorit. Der 22-jährige Corretja, Nummer 31 der Welt, ist der krasse Außenseiter gegen den drei Jahre älteren US-Amerikaner.

Bei seinen vier vorangegangen US-Open-Teilnahmen konnte der spanische Sandplatzspezialist nur ein Spiel gewinnen. Es ist ein Duell der gegensätzlichen Spielstile. Sampras, der bedingungslos mit Serve-and-Volley attackiert und mit seinem herausragenden Aufschlag eine richtige Waffe hat, und Corretja, der wie die meisten Spanier mit viel Spin von der Grundlinie agiert und keinen Ball verloren gibt.

Sampras mit 22 Aufschlagpunkten in Folge zur Satzführung

Bereits zu Beginn bekommt Sampras einen Vorgeschmack, was ihn im Laufe der Partie noch erwarten wird. Sein sonst so überragender Aufschlag funktioniert zu Beginn noch nicht und Corretja nimmt ihm gleich im ersten Spiel den Aufschlag ab. Der Spanier transportiert das Break zur 5:4-Führung und hat einen Satzball. Doch dann schlägt das Kuriosenkabinett zu. Corretja bringt den Ballwechsel mit seinem ersten Aufschlag ins Spiel. Der Ballwechsel muss aber wenig später unterbrochen werden, da der zweite Ball aus der Hosentasche von Corretja gefallen ist.

Der Ballwechsel wird schließlich wiederholt und Sampras wehrt den Satzball im Stile einer Nummer eins ab. Auch den zweiten Satzball kann Corretja nicht verwerten und gibt den Aufschlag danach zum 5:5 ab. Es geht in den Tiebreak, wo Sampras ein einziges Minibreak reicht, um den Satz zu gewinnen. Mit seinem 22. (!) Aufschlagpunkt in Folge gewinnt er den Tiebreak mit 7:5.

Corretja überrascht mit glänzendem Aufschlag

Der zweite Satz beginnt mit verpassten Breakchancen auf beiden Seiten. Zunächst gelingt es Sampras nicht, seinen Breakball zur 1:0-Führung zu nutzen. Gleich danach vergibt Corretja sogar vier Breakbälle. Sowohl der US-Amerikaner als auch der Spanier geben sich bis zur Schlussphase des Satzes keine Blöße mehr. Corretja ist im entscheidenden Moment aber hellwach und glänzt mit starken Passierbällen und Gewinnschlägen. Bei 6:5 kann der Spanier zunächst wieder zwei Satzbälle nicht nutzen. Doch der dritte Satzball ist es für Corretja, der Sampras zum Satzausgleich breakt.

Der Spanier hält weiter sein Niveau und beeindruckt zur Überraschung aller mit seinem überragenden Aufschlag. Bereits zum Ende des dritten Satzes hat Corretja 16 Asse auf dem Konto. Auch am Ende der Partie soll Sandplatzspezialist Corretja mit 25 Assen zwei mehr aufweisen als Sampras. Bei 5:4-Führung erspielt sich Corretja bei Aufschlag von Sampras zweimal einen Satzball. Der US-Amerikaner kann noch abwehren und gleicht zum 5:5 aus.

Sampras ist erschöpft: "Ich hätte mehr Snacks vorher essen sollen"

Doch wenig später verschenkt "Pistol Pete" mit zwei leicht verschlagenen Schmetterbällen den Satz zum 5:7 und liegt mit 1:2 in den Sätzen zurück. Die große Überraschung im voll besetzten Louis Armstrong Stadium liegt in der Luft. Sampras wirkt schon früh müde und erschöpft. "Ich erinnere mich, dass ich Mittag gegessen habe in der Players Lounge. Aber das Match vor uns ging unerwartet lang. Ich hätte mehr Snacks vorher essen sollen, - einen Cookie, eine Banane, ein dickes Stück Brot - bevor ich auf den Platz gegangen bin", berichtet Sampras später in seiner Biographie "A Champion's Mind".

Der Weltranglisten-Erste und Titelverteidiger wirkt auch sichtlich angeschlagen und stellt seine Strategie im vierten Satz bei den Aufschlägen von Corretja etwas um. Da die langen Grundlinienduelle fast immer an den Spanier gehen, attackiert Sampras nun mehr. Und das mit Erfolg. Ihm gelingt zum 2:1 sein erstes Break seit dem ersten Satz. Auf seinen starken Aufschlag ist auch wieder Verlass und er serviert zum Satzausgleich aus.

Angeschlagener Sampras hofft auf die "eine Chance zur Erlösung"

Während Sampras bei jedem Punkt seine typisch herausgestreckte Zunge zeigt und mehr als angeschlagen wirkt, ist Corretja der physisch klar bessere Spieler. Welche Spuren das Match bei Sampras hinterlassen hat, wird später in seiner Biographie deutlich. Dort glaubt er, dass er den dritten Satz gewonnen hat und Corretja den Satzausgleich mit 6:4 schaffte. Aber es war ja genau anders herum. Der Spanier kann im fünften Satz keinen wirklichen Nutzen aus der Erschöpfung des Weltranglisten-Ersten ziehen. Beide Spieler geben sich beim Aufschlag kein Blöße, nur der US-Amerikaner hat in einem Aufschlagspiel kleine Schwierigkeiten.

"Ich war zerschrammt, abgenutzt und erschöpft. Aber ich war immer noch fähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich war noch fähig zu kämpfen", schildert "Pistol Pete" die Situation. Es geht in den finalen Showdown der Partie, in den Tiebreak im fünften Satz. Die US Open sind das einzige Turnier, wo der Entscheidungssatz nicht ausgespielt wird. "Ich bin gegen die Wand gefahren im fünften Satz und fühlte, dass ich sterben müsste. Aber ich wusste im Hinterkopf, dass ich eine Siegchance hatte, eine Chance zur Erlösung. Es war nur ein Tiebreak. Ich habe Millionen zuvor von ihnen gespielt und keiner dauert ewig", legt Sampras seine Gefühlslage später offen.

Dramatischer Tiebreak, Sampras übergibt sich

Es wird ein Tiebreak mit offenem Visier. Sampras schafft das erste Minibreak beim ersten Punkt und gibt danach gleich seinen Aufschlag zum 1:1 ab. Was dann kommt, ist nicht nur die Szene des Spiels, sondern des gesamten Turniers. Sampras wankt, kann sich kaum auf den Beinen halten und muss sich letztendlich kurz vor der Bande hinter der Grundlinie übergeben. "Mein Rücken krampfte, meine Beine fühlten sich wie aus Holz gemacht an und waren nicht mehr komplett unter meiner Kontrolle. Ich erinnere mich, dass ich einen harten Punkt gespielt habe und ganz plötzlich hatte ich diese Erkenntnis: Heilige Scheiße, ich werde mich übergeben. Ich muss kotzen - vor der ganzen, verdammten Welt", schildert der US-Amerikaner diese Situation in seinen Memoiren.

Über vier Stunden sind jetzt gespielt und Sampras ist am Ende seiner Kräfte. Wegen der Zeitüberschreitung nach dem Brechanfall kassiert er noch obendrauf eine Verwarnung. Die 18.000 Zuschauer im Louis Armstrong Stadium in New York sind natürlich aus dem Häuschen und feuern ihren Landsmann frenetisch an. Einen Gedanken ans Aufgeben verschwendet Sampras nicht. "Ich war in meiner eigenen, kleinen Welt voller Schmerzen. Und so schlimm, wie es auch war, ich wollte das Match nicht aufgeben."

Ein Doppelfehler zur Unzeit beendet das Match

Sampras geht volles Risiko und schafft ein zweites Minibreak zum 3:2. Corretja kontert mit dem direkten Ausgleich. Dass der Weltranglisten-Erste nicht mehr kann, ist deutlich zu sehen. Trotzdem muss er aufpassen, dass er keine zweite Verwarnung wegen Zeitüberschreitung kassiert. Das würde gleichzeitig einen Punktverlust bedeuten. Auch ein drittes Minibreak zum 5:4 egalisiert der Spanier beim nächsten Punkt. Bei 6:5 holt sich Sampras den ersten Matchball der Partie. Corretja bleibt cool, wehrt ab und holt sich seinerseits bei 7:6 den ersten Matchball. Sampras attackiert, nutzt seine ganze Reichweite bei einem Volley und gleicht zum 7:7 aus.

Mit einem Ass beim zweiten Aufschlag erspielt sich Sampras seinen zweiten Matchball. Und dann macht es Corretja dem US-Amerikaner ganz leicht. Der in diesem Spiel so überragend servierende Spanier fabriziert ausgerechnet beim Matchball gegen sich einen Doppelfehler. Das Match ist vorüber und Sampras sichtlich erleichtert, dass er im Halbfinale steht und "dem Tod von der Schippe" gesprungen ist. So richtig freuen kann sich "Pistol Pete" aber nicht. Zu schwach ist er einfach auf den Beinen. Er wird sofort in die Katakomben geführt und medizinisch versorgt. "Ich bin gleich in das Büro des Doktors unter der Tribüne des Louis Armstrong Stadium gegangen und bin kollabiert. Sie haben mich gleich intravenös angeschlossen."

Corretja am Boden zerstört, Sampras' definierender Moment

Corretja ist dagegen noch mehr ein Häufchen Elend und vergräbt seinen Kopf minutenlang in seinem Handtuch. Erst durch die vielen lauten "Alex, Alex"-Sprechchöre der begeisternden Zuschauer erhebt sich der Spanier von seinem Platz und verneigt sich vor dem Publikum. "Es war wahrscheinlich das beste Match meiner Karriere - das Beste und das Schlechteste zugleich", sagt Corretja im Anschluss.

Für Sampras hatte dieses Viertelfinale eine große Bedeutung in seiner Karriere. "Das Corretja-Match wurde in den Köpfen aller eingraviert als mein definierender Moment - mein Kämpfermoment. Hätte ich dasselbe Match gegen Alex in der zweiten Runde in Monte Carlo gespielt, hätte es bestimmt nicht denselben Einschlag gehabt. Es passierte eben im Viertelfinale der US Open unter der Erstaunen der internationalen Presse, bei einem Grand-Slam-Event, bei meinem Heimmajor zur besten Sendezeit einen Tag nach dem Labor Day, wo alle zurück aus dem Urlaub waren" erklärte Sampras, der bis zu diesem Zeitpunkt von seinen Landsleuten zwar respektiert wurde, aber nicht wirklich geliebt wurde.

Sampras erholt sich die Tage richtig gut von seiner Erschöpfung und gewinnt anschließend recht problemlos die US Open - seinen achten Grand-Slam-Titel. In den anschließenden Jahren erlebt "Pistol Pete" in New York aber auch die Kehrseite und kassiert bittere Pleiten. Bis zum Jahr 2002, als er von der Presse schon völlig abgeschrieben sein letztes großes Husarenstück abliefert.

von Christian Albrecht Barschel

Montag
05.09.2016, 09:00 Uhr