Die Davis-Cup-Schlacht von Hartford

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tennisnet.com blickt auf das legendäre Davis-Cup-Duell zwischen Deutschland und der USA im Jahr 1987 zurück. Boris Becker und John McEnroe bekämpften sich 6:21 Stunden.

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Von Christian Albrecht Barschel

Es ist der 24. Juli 1987 im Civic Center in Hartford im US-Bundesstaat Connecticut. Deutschland und die USA stehen sich im Davis Cup gegenüber. Es ist weder ein Finale noch ein Halbfinale zwischen den zwei großen Tennisnationen, sondern ein Relegationsspiel in diesem wichtigsten Mannschaftswettbewerb. Ein Spiel um den Verbleib in der Weltgruppe der 16 besten Teams. Ein Kampf um das nackte Überleben.

Beide Mannschaften hatten zuvor ihre erste Runde im Davis Cup überraschend verloren. Deutschland unterlag in Spanien mit 2:3, wo ausgerechnet Boris Becker im entscheidenden Einzel seine für viele Jahre letzte Niederlage im Davis Cup kassierte. Die USA traten mit einer ersatzgeschwächten Truppe in Paraguay an und verloren ebenfalls mit 2:3.

McEnroe: "Das Schlimmste was passieren kann, ist ein knapper 3:2-Sieg"

Und so kommt es Ende Juli in Hartford zum großen Showdown zwischen Deutschland und Rekordsieger USA, die zuvor noch nie aus der Weltgruppe im Davis Cup abgestiegen sind. Extra für das bevorstehende Relegationsmatch wird John McEnroe für den Davis Cup reaktiviert, der knapp drei Jahre nicht mehr für sein Land gespielt hatte, weil er sich weigerte, einen Verhaltenkodex zu unterzeichnen. "Ich habe keine Lust, dass die USA in einer bedeutungslosen Liga spielen muss", erklärte der 28-jährige US-Amerikaner seine Rückkehr, damals die Nummer neun der Welt.

Für McEnroe ist es das erste Wettkampfmatch nach der Erstrunden-Niederlage bei den French Open zwei Monate zuvor, aber trotzdem gießt er zusätzlich Öl ins Feuer. "Ich glaube, das Schlimmste, was uns passieren kann, ist ein knapper 3:2-Sieg", gibt sich McEnroe absolut siegessicher. Auf Seiten Deutschlands richten sich alle Augen auf Boris Becker, auf dessen Schultern die gesamten Hoffnungen ruhen. Doch der damals 19-jährige Weltranglisten-Vierte befindet sich in seiner ersten großen Krise. Beim vorangegangen Wimbledonturnier schied der Leimener als Titelverteidiger sensationell in der zweiten Runde aus. Und nun soll Becker im Alleingang drei Punkte für den Verbleib in der Weltgruppe beisteuern.

Jelen legt überraschend vor, Doppelfehler kosten Becker Satz eins

Den Auftakt im mit über 16.000 Zuschauern vollbesetzten Hartford Civic Center machen im ersten Einzel Eric Jelen und Tim Mayotte. Jelen, Nummer 68 der Welt, ist der klare Außenseiter gegen den um 54 Plätze besser positionierten Mayotte. Doch Jelen spielt das Match seines Lebens und nutzt die Schwächen des US-Amerikaners, der dem Druck nicht standhalten kann, eiskalt aus. Der Deutsche bringt seine Mannschaft nach einem hart umkämpften 6:8, 6:2, 1:6, 6:3, 6:2 mit 1:0 in Führung. Der Einzelpunkt von Jelen ist nicht wirklich eingeplant im deutschen Plan, spielt aber Becker im zweiten Einzel gegen McEnroe natürlich in die Karten.

Als beide Spieler um 16:30 Uhr nach amerikanischer Zeit den Platz betreten, ist McEnroe die Anspannung in seinem Gesicht abzulesen. Verliert auch er sein Einzel, sieht es zappenduster aus für die USA, in der Weltgruppe des Davis Cups zu bleiben. Doch "Big Mac" zeigt sich zu Beginn gut aufgelegt und breakt Becker zum 2:0, der mit einem Doppelfehler sein Aufschlagspiel abgibt. Becker findet danach in das Match, schafft das Rebreak und serviert locker durch seine Aufschlagspiele, während McEnroe etwas Mühe hat. Doch bei 4:5-Rückstand sind auf einmal drei Satzbälle für den US-Amerikaner da. Und erneut leistet sich Becker einen Doppelfehler und verliert damit den ersten Satz. McEnroe ist jetzt auf Betriebstemperatur, streckt seinen Arm in die Luft und animiert das Publikum.

Epischer zweiter Satz, Becker behält die Nerven im Psycho-Krieg

Die Intensität und Dramatik der Partie nimmt im zweiten Satz weiter an Fahrt auf. Becker gelingt zweimal ein Break zum 2:1 und 3:2. Doch McEnroe kann den Rückstand zweimal ausgleichen. Da im Davis Cup der Tiebreak erst 1989 eingeführt wird, geht der Satz solange, bis ein Spieler zwei Spiele Vorsprung hat. Becker nimmt McEnroe ein drittes Mal den Aufschlag ab und geht mit 8:7 in Führung. Doch auch diesen Vorteil kann der Deutsche zum Satzausgleich nicht nutzen. Wieder gleicht McEnroe aus und macht nach dem nächsten gewonnenen Ballwechsel eine Pose, als ob er schon das Match gewonnen hätte.

Immer wieder versucht der US-Amerikaner Psychospielchen mit Becker anzufangen. Beide rufen sich immer wieder Beleidigungen über das Netz zu. Und auch von der US-amerikanischen Bank gibt es immer wieder Gesten, die das Publikum anstacheln sollen. Jetzt beginnt es, episch zu werden. Bei 11:10-Führung hat der US-Amerikaner bei Aufschlag Becker drei Satzbälle am Stück. Den ersten wehrt Becker mit einem Ass ab. Doch McEnroe will das nicht wahrhaben, flippt regelrecht aus und diskutiert in seiner gewohnten lauten und aufbrausenden Art und Weise mit dem französischen Schiedsrichter Claude Richard. Auch die Satzbälle zwei und drei wehrt Becker mit guten Aufschlägen ab. McEnroe lässt nicht locker, erspielt sich den vierten Satzball. Eine 2:0-Satzführung vor eigenem Publikum dürfte die halbe Miete für "Big Mac" sein.

Fünf Stunden für drei Sätze

Doch Becker bleibt in der Hitze des Gefechts weiter äußerlich total cool, wehrt den vierten und danach auch den fünften Satzball ab. Stattdessen breakt er McEnroe, der beim Breakball einen leichten Schmetterball ins Netz schlägt, einige Spiele später zum 14:13. McEnroe ist fuchsteufelswild, verzichtet auf die Pause auf der Bank und setzt sich stattdessen im Schneidersitz auf den Platz und wartet darauf, dass Kapitän Tom Gorman ihn mit Getränken und seinem Handtuch versorgt. Becker lassen die Mätzchen seines Gegners völlig kalt. Er gewinnt sein Aufschlagspiel zu null, schafft den Satzausgleich und zeigt seine berühmte Becker-Faust. Das Match dauert nun schon knapp 3:30 Stunden, wobei der zweite Satz eine Länge von 2:35 Stunden hat.

Im dritten Satz ist Becker eigentlich der dominierende Spieler auf dem Platz und bringt seine Aufschlagspiele immer recht souverän durch. Doch seine insgesamt fünf Breakchancen bei 3:3, 5:5 und 6:6 kann der Deutsche allesamt nicht nutzen. Da nutzt auch der Becker-Hecht auf den harten Hartforder Hallenboden nichts. Urplötzlich sind bei 9:8 zwei Satzbälle für McEnroe da, der den zweiten Satzball auch zur 2:1-Satzführung verwerten kann. Der US-Amerikaner ist außer sich vor Freude. Es sind jetzt schon knapp fünf Stunden auf der Uhr für drei gespielte Sätze. Jetzt geht es in eine 15-minütige Pause, die damals nach Beendigung des dritten Satzes im Davis Cup üblich ist.

Becker topfit, McEnroe gehen die Kräfte aus

Die Pause nimmt zunächst etwas Feuer aus der Begegnung, was besonders Becker guttut, der sofort McEnroe zum 1:0 breakt. Der Leimener kann danach das Break bestätigen. Immer wieder kommt es zu engen und strittigen Entscheidungen, in die sich auch der deutschen Davis-Cup-Kapitän Niki Pilic einmischt. Becker und McEnroe liefern sich Wortgefechte und fixieren sich gegenseitig mit ihren Blicken. Nach dem zweiten Break zum 4:1 ist der Satz gelaufen und Becker sichert sich den erneuten Satzausgleich. Die Halle kocht jetzt förmlich über, und auch die Becker-Eltern applaudieren. Sechs Stunden Spielzeit mit 395 Punkten läuft die Partie bereits, laute USA-Rufe mit stehenden Ovationen hallen durch das Civic Center in Hartford.

Doch umso lauter es wird, umso besser spielt Becker, der fortan seine bessere Fitness gegen seinen neun Jahre älteren Kontrahenten voll und ganz ausnutzt. McEnroe will die Ballwechsel kurz halten und wird immer häufiger mit starken Passierbällen des Deutschen düpiert. Zwei Breaks zum 3:2 und 5:2 bringen die Vorentscheidung. Becker ist nach über sechs Stunden immer noch topfit und verwandelt mit einem Rückhandvolley seinen ersten Matchball zum 4:6, 15:13, 8:10, 6:2, 6:2 über McEnroe. Becker reißt jubelnd seine Arme in die Höhe, klatscht mit Kapitän Pilic ab und freut sich mit seinen Teamkollegen über die 2:0-Führung.

"Das war Krieg", aber USA gleichen zum 2:2 aus

Um 23:17 Uhr amerikanischer Zeit (in Deutschland ging gerade die Sonne auf) und nach 6:39 Stunden ist dieses legendäre Match beendet. Später wird die Spielzeit aufgrund der Pause auf 6:21 Stunden nach unten korrigiert und ist damit nur um eine Minute kürzer als das bis dahin längste Tennismatch: 1982 ebenfalls im Davis Cup und ebenfalls mit McEnroe, der den Schweden Mats Wilander schlug. "Ich hatte nicht mehr viel übrig. Ich habe alles gegeben, was ich konnte. Es war schön, Teil eines großen Matches gewesen zu sein. Ich wünschte nur das Ergebnis wäre anders" zeigte sich McEnroe wenig später natürlich enttäuscht.

Für Becker ist es "das größte Match, das er je gespielt hat". Freundliche Worte für McEnroe findet er aber nicht. "Ich bewundere ihn als Tennisspieler, aber er tut mir als Mensch leid. Er wird genau wissen warum". Der Leimener gibt später zu Bedenken, dass es "ein Krieg war". Eine Schlacht war für Deutschland gewonnen, aber noch nicht das große Ziel Klassenerhalt erreicht. Am nächsten Tag geht es mit dem Doppel weiter, in dem Pilic sich dazu entscheidet, Becker nicht antreten zu lassen. Stattdessen spielt Ricky Osterthun mit Beckers Stammpartner Jelen. Gegen das Weltklasse-Doppel Ken Flach/Robert Seguso müht sich das deutsche Duo nach Kräften, ist aber mit 3:6, 6:8, 12:14 unterlegen. Am darauf folgenden Sonntag gleicht McEnroe durch einen lockeren 7:5, 6:2, 6:1-Sieg gegen Jelen zum 2:2 für die US-Amerikaner aus.

"Jetzt oder Nie"-Situation für Becker gegen Mayotte

Nun liegt es wieder an Becker, im letzten Einzel den dritten und entscheidenden Punkt für Deutschland zu holen. Gegen Mayotte geht der Deutsche nach den bisher gezeigten Leistungen als Favorit ins Spiel. Und Becker wird dieser Rolle zunächst voll und ganz gerecht. In beeindruckender Manier gewinnt er die ersten beiden Sätze mit 6:2, 6:3. Doch es ist wie so oft bei Spielen mit dem Leimener. Es geht nicht ohne ein richtiges Drama. Becker baut Mayotte wieder auf und verliert Satz drei und vier mit 5:7 und 4:6.

Im fünften Satz ist es wieder ein Spiel der Nerven. Nachdem Becker einen Ball über seine Schulter wirft, landet dieser im Schoß vom wütenden McEnroe, der den Deutschen daraufhin abwerfen will. Bei 2:2 kommt es zur Schlüsselszene im Match. Becker hat zwei Breakbälle gegen sich und kann diese abwehren. "Ich habe zu mir gesagt, dass ich ihn nur brechen kann, wenn ich es durch mein Aufschlagspiel schaffe. Ich brauchte diese "Jetzt oder Nie"-Situation, sagt er später. Danach ist der Widerstand von Mayotte gebrochen und Becker holt sich den Satz mit 6:2 und führt Deutschland in dem "schwierigsten Match seines Lebens" nach 3:42 Stunden zum umjubelten 3:2-Sieg.

Sieg in Hartford ebnet Weg für zwei Davis-Cup-Triumphe

Becker schnappt sich eine Deutschlandfahne und dreht ein paar Ehrenrunden im "feindlichen Hartford". Seine Teamkameraden und Landsleuten jubeln ihm mit "Deutschland, Deutschland" und "Boris, Boris-Rufen" zu, der Rest der Halle ist still. Die USA muss zum ersten Mal aus der Weltgruppe des Davis Cups absteigen. Die Generation um McEnroe gibt so langsam das Zepter an die neue US-Generation mit Spielen um Andre Agassi, Pete Sampras, Jim Courier und Michael Chang weiter.

Wie wichtig der heroische Sieg in Hartford für das deutsche Davis-Cup-Team ist, wird sich in den nächsten beiden Jahren zeigen. Deutschland gewinnt 1988 zum allerersten Mal den Davis Cup und kann ein Jahr später den Titel erfolgreich verteidigen. Auf dem Weg zum zweiten Triumph treffen sich Deutschland und die USA im Halbfinale in einer weiteren denkwürdigen Partie übrigens wieder. Das ist eine andere erzählenswerte Geschichte.

Hier gibt es Boris Becker gegen John McEnroe in fast voller Länge.