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"Bei 50 OKC-Siegen bestünde kein Zweifel"

Gehört der MVP-Award Russell Westbrook?
© getty

Die Regular Season ist vorbei - und damit ist die Zeit gekommen, um sich auf die Awards festzulegen. Russell Westbrook oder James Harden? Draymond Green oder Rudy Gobert? Und wer wird Sixth Man? SPOX hat mit MVP-Wähler Sean Deveney von Sporting News über seinen Stimmzettel diskutiert.

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SPOX: Sean, die Saison ist vorbei, Sie haben Ihren Stimmzettel bereits abgegeben und Russell Westbrook als MVP gewählt. Was hat für Sie letztendlich den Ausschlag gegeben?

Sean Deveney: Der historische Aspekt war meiner Meinung nach zu groß, um ihn zu ignorieren. Ja, die Quoten sind nicht überragend, er hat viele Ballverluste und sein Team ist "nur" Sechster im Westen. Aber: Ich glaube, dass die allermeisten Leute dachten, dass wir nie wieder eine Triple-Double-Saison sehen würden. Beziehungsweise nie - die meisten von uns waren ja noch nicht auf der Welt, als Oscar Robertson es schaffte (1962, d. Red.). Es ist immer noch unfassbar, was Westbrook in dieser Saison vollbracht hat, und das ist meiner Meinung nach noch höher zu bewerten als die ebenfalls spektakulären Saisons von beispielsweise James Harden oder Kawhi Leonard. 32, 10 und 10? Das ist für viele Spieler die beste Partie der Karriere. Russ legt diese Zahlen im Schnitt auf!

SPOX: War es für Sie denn knapp? Dass Westbrook den Schnitt tatsächlich schaffen würde, war ja mittlerweile doch seit einer ganzen Weile absehbar.

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Deveney: Nun, ich hatte es schon länger im Hinterkopf, dass Westbrook mein MVP sein würde, wenn sein etwa 46-48 Siege schafft, und er tatsächlich ein Triple-Double auflegt. Ich muss allerdings ehrlich sagen, dass ich erst Anfang März wirklich daran glauben konnte. Ich dachte die ganze Zeit: "Bei dem Tempo muss er doch irgendwann einbrechen!" Dieser Punkt kam aber nie. Stattdessen haben die letzten Wochen, in denen er sogar noch eine Schippe draufgelegt hat, mich in meiner Entscheidung pro Westbrook bestätigt. Ich habe aber auch bei Harden und vor allem Leonard lange überlegt, es hat nur im Vergleich zu Westbrook nicht komplett gereicht.

SPOX: Der MVP-Award ist von der NBA bewusst extrem lose definiert, sodass fast niemand so richtig über die wichtigsten Kriterien Bescheid weiß. Normalerweise spielen Siege die größte Rolle, das wäre bei Westbrook und seinen "mittelmäßigen" Thunder allerdings nicht der Fall. Was sind für Sie die wichtigsten Kriterien der Wahl?

Deveney: Siege sind sehr wichtig, keine Frage. Wenn OKC 50 oder 52 Siege hätte, bestünde meiner Meinung nach überhaupt kein Zweifel daran, dass er MVP wird. Aber der Impact eines Spielers und seine individuelle Dominanz sind mir auch extrem wichtig - und niemand hat dieser Saison einen fetteren Stempel aufgedrückt als Westbrook. Am Ende sind es verschiedene Zahlen, die man berücksichtigen muss, sowohl beim individuellen als auch beim Team-Erfolg. Manchmal hilft es aber auch, einen Schritt nach hinten zu treten und sich zu fragen: "Wer war die wichtigste Person dieser Saison? Wer hat sie bestimmt, an wen wird man sich am meisten erinnern?" Man muss das alles irgendwie einbeziehen, weil es wie von Ihnen gesagt keine festen Kriterien gibt. Und für mich sticht all das Positive bei Westbrook den Makel, dass sein Team nur auf dem sechsten Platz ist, am Ende klar aus.

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SPOX: Es wird derzeit ja darüber diskutiert, den MVP-Award zu splitten - Rachel Nichols von ESPN etwa schlug vor, man könnte neben dem klassischen Award auch noch einen "Most Outstanding Season"-Award vergeben, um den verschiedenen Kriterien gerecht zu werden. Wie sehen Sie das?

Deveney: Ich habe auch davon gehört, die Idee gibt es ja schon länger. Ich glaube aber nicht, dass wir das brauchen. Ich denke, dass schon jeder Wähler und auch die allermeisten Fans in der Lage sind, sich auf einen MVP festzulegen. Und wenn dann mal jemand wie Westbrook die Phalanx der Spieler durchbricht, die MVP wurden, weil sie die besten Spieler beim Team mit der besten Bilanz waren, ist das doch kein Problem - es verdeutlicht nur, was für eine Ausnahmeleistung er abgerufen hat. Man muss die Regeln nicht ändern. Außerdem mag es die NBA sehr gerne, wenn wir uns alle den Kopf darüber zerbrechen. (lacht)

SPOX: Das habe ich auch getan - und ich bin letztendlich bei Harden geblieben, der auf Ihrem Zettel erst an dritter Stelle kommt. Mein Argument in aller Kürze: Er hat ähnlich beeindruckende Zahlen wie Russ und zwei Rebounds pro Spiel sind mir nicht wichtiger als acht Siege des Teams. Und: Die Behauptung, dass Russ ein viel schlechteres Team hätte als Harden, finde ich nicht angebracht. Vor der Saison trauten die Buchmacher den Rockets etwa 41,5 Siege zu, bei OKC waren es 45,5. Das ist natürlich keine exakte Wissenschaft und ich würde nicht behaupten, dass OKC besser besetzt ist als Houston, aber es ist auch nicht so, dass Russ nur mit Grütze und Harden mit dem Dream Team zusammenspielen würde. Ich finde, dass Hardens Team die Erwartungen weitaus mehr übertroffen hat als OKC. Ist das unfair?

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Deveney: Nein, es ist für mich ein sinnvolles Argument. Nicht falsch verstehen: Ich wäre auch nicht böse, wenn Harden gewinnt! Ich persönlich gewichte den historischen Aspekt von Westbrooks Leistungen stärker, zumal ich von Over/Under nicht viel halte: Die 41,5 Siege hatten ja vor allem auch damit zu tun, dass die letzte Saison in Houston so desolat lief und dass niemand gedacht hätte, dass Eric Gordon oder Ryan Anderson eine ganze Saison fit bleiben könnten. So etwas kann ja niemand vorhersehen. Ich denke, dass man die Rockets ansonsten schon ein Stück besser eingeschätzt hätte als die Thunder, was sie eben auch sind.

SPOX: Einige sind ja der Meinung, dass Russ seine Mitspieler nicht wirklich besser macht und manche von ihnen eher in ihrer Entwicklung behindert. Auch ich habe teilweise das Gefühl, dass Oladipo, Adams und Co. mehr leisten könnten, wenn man es ihnen erlauben würde. Denken Sie, dass Westbrooks Spielweise die optimale ist, damit OKC Erfolg haben kann?

Deveney: Es kann schon sein, dass etwa Oladipo langfristig ein besserer Spieler werden könnte, wenn er den Ball mehr in der Hand hätte. Aber die Thunder wollten unbedingt in die Playoffs - und dafür war notwendig, dass Westbrook auf seine Art und Weise dominierte. Die Offense des Teams ist non-existent, wenn er auf der Bank sitzt. Und er sorgt schon auch dafür, dass alle anderen den Ball erhalten. Oladipo spielt ja trotz allem seine beste und effektivste NBA-Saison. Andre Roberson ist einer, der wohl bei kaum einem anderen Team funktionieren würde, der aber gut mit Russ koexistieren kann, weil er eben nicht den Ball braucht. Adams ebenfalls. Ich musste einige Male schmunzeln, wenn ich gelesen habe, dass Westbrook "das Leben aus seinem Team saugt" - diese Kritik ist für mich völlig absurd. Sein Team funktioniert, solange er seine außerirdischen Leistungen abruft.

SPOX: Es scheint mittlerweile so, als würden die meisten Leute das ähnlich sehen. Denken Sie, dass er letztendlich gewählt wird?

Deveney: Ja, nach allem, was ich zuletzt gehört habe, hat sich Westbrook mehr und mehr abgesetzt und muss mittlerweile als Top-Favorit gelten. Ich denke, er wird es. Und dabei spielt auch das Wählerverhalten eine Rolle: Man hat das Camp, zu dem ich gehöre, das Westbrook wählt. Und dann hat man das andere Camp, das ihn nicht wählt, aus den Gründen, die wir diskutiert haben - aber nicht jeder aus diesem Camp wird Harden wählen, sondern eben auch Kawhi, und einige Stimmen werden sicherlich auch an LeBron James gehen, der bei mir auf Platz vier steht. Die anderen Kandidaten klauen sich die Stimmen gegenseitig. Das könnte am Ende den Ausschlag pro Westbrook geben.

SPOX: In diesem Jahr werden die Awards erstmals alle am gleichen Tag verkündet, am 26. Juni, also auch nach den Finals. Was halten Sie davon? Ist der Termin nicht eigentlich viel zu spät?

Deveney: Ich finde es auch zu spät. Ich finde zwar richtig, dass man jetzt alles an einem vorher festgelegten Tag erfährt, da es in den letzten Jahren für uns Journalisten ziemlich unpraktisch war, dass einfach je nach Laune mal ein Award aus dem Nichts hereingeflattert kam, ohne dass man sich darauf vorbereiten konnte. Das war nicht cool. (lacht) Aber ich finde, dass die Show während der Postseason stattfinden sollte und nicht erst danach. Es kann ja auch durchaus für neue Spannungen in einer Serie sorgen.

SPOX: 1995 war Hakeem Olajuwon wütend, dass David Robinson an seiner Statt zum MVP gewählt wurde, und ließ diese Wut im direkten Duell am Admiral aus. Ähnlich wie Michael Jordan, wann immer jemand anders als er zum MVP gewählt wurde. Eigentlich wäre diese Saison ideal dafür: Man stelle sich vor, während der ersten Runde kommt heraus, dass Harden statt Westbrook MVP geworden ist. Dann will ich sehen, wie Russ im nächsten Spiel mit Schaum vorm Mund 70-20-20 auflegt. Warum nimmt man uns diese Möglichkeit?

Deveney (lacht): Ich sehe es genau so, es ist ein Fehler. Nach den Finals schauen die Leute hier Baseball oder gehen an den Strand, die NBA ist dann nur noch wegen des Drafts und Spielerwechseln auf dem Radar, nicht wegen der Awards. Und wie Sie schon sagen, es kann für Extra-Würze sorgen. Aber schauen wir mal, wie es in dieser Saison ankommt und ob es in den nächsten Jahren genau so bleiben wird.

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