"Sorry, Emotionen müssen mal sein"

Kommentierte Kerbers Grand-Slam-Sieg am Eurosport-Mikrofon: Marco Hagemann
© getty

"Sie hat es! Sie hat es! Angie, du hast es!" Angelique Kerber holte sensationell den Titel bei den Australian Open - und Kommentator Marco Hagemann jubelte in Melbourne am Mikrofon begeistert mit. Im Interview lässt der 39-Jährige die zwei magischen Wochen Revue passieren und verrät, wann er selbst an den Sieg glaubte. Außerdem: Wie er die Reaktionen auf seinen Stil bewertet, ob es mit einem neuen Tennis-Boom klappen könnte - und warum die deutsche Schwarz-Weiß-Mentalität so gefährlich ist.

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SPOX: Herr Hagemann, man kennt Sie vor allem als Fußball-Kommentator, auch bei SPOX. Bei den Australian Open waren Sie für Eurosport im Einsatz. Und live am Mikrofon dabei, als Angelique Kerber deutsche Tennis-Geschichte geschrieben hat. Dabei war die ja fast schon sehr früh raus...

Marco Hagemann: Richtig. Ich habe in den zwei Wochen vielleicht 20 Matches kommentiert, drei oder vier von Angie Kerber. Darunter auch die erste Runde gegen Misaki Doi, als Kerber Matchball gegen sich hatte. Trifft Doi die Vorhand in diesem Moment so wie zuvor auch, sitzt die spätere Siegerin schon am Mittwoch wieder im Flieger nach Deutschland. Daran sieht man, wie eng das alles zugeht.

SPOX: Stattdessen erreichte Kerber das Finale. Hätten Sie ihr das vor dem Turnier zugetraut?

Hagemann: Vor dem Turnier dachte ich, dass sie weit kommen kann. Sie war gut in Form, so fit wie noch nie und hatte eine starke Vorbereitung gespielt. Sie wirkte sehr fokussiert und wollte das umsetzen, was sie schon angekündigt hatte: bei den Grand Slams 2016 noch weiter vorne sein. Die Frage war immer, ob sie es vom Kopf her schafft. Angie ist jemand, der sich sehr viel hinterfragt. Als sie Achtelfinale im deutschen Duell auf Annika Beck oder im Halbfinale auf die Außenseiterin Johanna Konta traf, musste sie sich erst freispielen.

SPOX: War der Sieg über Doi ein früher Knackpunkt?

Hagemann: Natürlich war der extrem wichtig. Aber der Moment, in dem es Klick gemacht hat, war der Sieg über Viktoria Azarenka im Viertelfinale. Das hat sie selbst betont: Zuvor hatte sie Azarenka, die ja nach Williams die zweite große Favoritin auf den Titel war, noch nie schlagen können und hatte auch in der Vorbereitung in Brisbane glatt gegen sie verloren. Aber dieses Mal ist es ihr gelungen, in Azarenkas Kopf zu kommen und sogar einen 2:5-Rückstand im zweiten Satz noch zu drehen. Alles Weitere war eigentlich nur ein Bonus: Azarenka geschlagen, erstes Grand-Slam-Finale erreicht, gegen die Nummer eins nichts zu verlieren. Es wäre auch bei einer Niederlage ein geiles Turnier gewesen.

Alexander Waske: "Angie war nicht fit und durcheinander"

SPOX: Zum Glück kam es dazu nicht. Obwohl sie gegen Serena Williams natürlich krasse Außenseiterin war.

Hagemann: Williams war in sensationeller Form, hatte in den sechs Partien vor dem Finale gerade einmal 26 Spiele abgegeben. Aber ich dachte mir schon vor dem Finale: Mann, wenn sie ein bisschen wackelt, dann ist heute etwas drin. Kerber war früh da, hat sich eingeschlagen und wirkte den ganzen Tag über sehr konzentriert. Und sie ist im Endspiel zum ersten Mal völlig ruhig geblieben. In allen Matches zuvor hat sie sich über Punktverluste aufgeregt, wo man dachte: Bleib ruhig, da konntest du doch nichts machen. Aber gegen Serena war das nicht der Fall. Beeindruckend, mit welcher Konzentration sie gespielt hat - in ihrem ersten Grand-Slam-Finale überhaupt.

SPOX: Es gab aber auch Momente, in denen man dachte: Wenn sie nicht aufpasst, dann könnte das Spiel kippen - nach dem zweiten Satz zum Beispiel.

Hagemann: Ja, aber genau dann war sie immer voll da, zum Beispiel zu Beginn des dritten Satzes, als sie gut reingekommen ist und das erste Spiel geholt hat. Serena hat im zweiten Satz kaum Fehler gemacht und noch nie einen dritten Satz in einem Grand-Slam-Finale verloren. Überhaupt hatte sie noch kein einziges Endspiel in Melbourne verloren. Aber Angie hat zu mir später gesagt, dass sie schon nach dem ersten Satz gewusst hat, dass etwas möglich ist.

SPOX: Hand aufs Herz: Wann haben Sie wirklich daran geglaubt, dass sie es packt?

Hagemann: Insgeheim zu Beginn des dritten Satzes. Da zeigte sie eine unglaubliche Präsenz, die Zuschauer merkten es - und die Gegnerin ebenfalls. Da dachte ich: Ja, sie kann dranbleiben. Als Kommentator ist immer die Frage, wann man es sagt - das kann auch ganz schnell nach hinten losgehen. Aber im dritten Satz wusste ich: Das kann was werden!

SPOX: Wie hat es Kerber denn spielerisch geschafft, eine 21-fache Grand-Slam-Siegerin in die Knie zu zwingen?

Hagemann: Sie hat gut und vor allem sehr variabel aufgeschlagen und, was auch der Plan war, Serena mit einer sehr guten Länge in den Grundschlägen sehr gut bewegt. Die Rückhand cross hat funktioniert, um das Spiel zu öffnen. Und sie hat Serenas Aufschläge sehr gut gekontert.

SPOX: Was nicht so einfach ist...

Hagemann: Richtig. Ihr Service ist ganz schwer zu lesen, weil der Ballwurf immer identisch ist, sich die Richtung des Aufschlags also erst im letzten Moment entscheidet. Das hat Angie super gemacht, gut returniert und dann alles ausgegraben. Serena musste noch einen Schlag bringen, dann noch einen, dann noch einen, sie konnte die Ballwechsel nicht kurz halten. Irgendwann war Angie in ihrem Kopf. Sie hat ja auch die Mehrzahl der langen Rallys für sich entschieden.

SPOX: Vor dem Match hat Williams immer betont, dass sie nicht über Steffi Grafs Rekord nachdenkt. Der steht bei 22 Grand-Slam-Titeln.

Hagemann: Natürlich tut sie das. Sie ist 34 und weiß: Einen braucht sie noch, oder zwei für den alleinigen Rekord. Bei den US Open im letzten Jahr hat man den Druck gespürt, als sie gegen Roberta Vinci verlor, und auch dieses Mal hatte sie im ersten Satz große Schwierigkeiten. Im zweiten Durchgang war sie top, da war auch klar: Wenn sie dieses Level halten kann, wird es ganz schwer. Aber Angie hat im dritten Satz ihre Taktik konsequent verfolgt und sie permanent beschäftigt. Ein solches Match über zwei Stunden wird irgendwann auch im Kopf entschieden.

SPOX: Da war die Stimmung schon in Richtung Kerber gekippt, oder? Wie ist es vor Ort in der Kommentatorenkabine? Was bekommt man mit, was dem Fan vor dem Fernseher fehlt?

Hagemann: Vor Ort zu sein ist vor allem wichtig, weil der persönliche Draht zu den Spielern sehr viel intensiver ist. Die Spieler kennen dich, du kennst sie und kannst vieles auf dem kurzen Dienstweg regeln. In der Kabine hat man den taktischen Überblick, sieht, wie sich die Spielerinnen bewegen, was bei den Seitenwechseln passiert. Natürlich schaut man auch immer mal in die Emotionen der jeweiligen Box. Was die Zuschauer in Australien angeht: Das sind so sportbegeisterte Menschen, die haben ein sehr gutes Gespür für das Spiel und die Leistungen beidseitig honoriert. Es war ein großartiges Match, eines der besten Finals, an die ich mich erinnern kann. Aber wenn eine Außenseiterin derart um ihr Leben läuft, dann finden die Aussies auch diese Underdog-Mentalität großartig und drücken Kerber vielleicht ein kleines bisschen fester die Daumen.

SPOX: Hat es Sie im dritten Satz eigentlich noch auf ihrem Stuhl gehalten?

Hagemann: Der war längst zur Seite geschoben. (lacht) Natürlich versucht man, eine gewisse Neutralität zu wahren, weil Serena auch klasse gespielt hat. Aber als deutscher Kommentator, eine deutsche Spielerin in Melbourne im Finale, die erste seit 20 Jahren - da entwickelt man die Emotionen eines Fans und drückt einer Angie Kerber natürlich auch die Daumen. Irgendwann dachte ich mir: OK, eigentlich habe ich noch ein paar Geschichten zu erzählen, zum Beispiel über ihre neue Hybrid-Saite, wie das Frühstück ablief, etc. - aber scheiß drauf, auf Deutsch gesagt! Hier unten spielen zwei Frauen fantastisches Tennis, da lasse ich mich gerne anstecken.

SPOX: "Sie hat es! Sie hat es! Angie, du hast es!" - Ihr Ausspruch ist jetzt schon legendär! Macht man sich vorher Gedanken darüber, was man in einem solchen Moment sagt?

Hagemann: Nein, das sind spontane Sachen, die in der Kabine passieren. Natürlich bist du dann auch Fan. Sorry, aber Emotionen müssen auch mal sein im Sport. Da freut man sich mit und dann kommt das so raus. Ich bin nie jemand gewesen und werde es auch nie sein, der sich für solche Fälle Sprüche ausdenkt.

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