Ein Pakt mit dem Teufel

Jan Ullrichs sportliche Erfolge wurden 2006 mit einem Schlag zur Nebensache
© getty

Die dunkelste Stunde des größten deutschen Radprofis aller Zeiten, der die Anerkennung des Sports in Deutschland verändert hatte, jährt sich vor der Tour de France 2016 zum zehnten Mal. Jan Ullrich wurde nicht nur des Dopings überführt, auch seine Karriere fand ein unwürdiges Ende. SPOX wirft vor dem Start der 103. Frankreich-Rundfahrt einen Blick zurück.

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30. Juni 2006, Straßburg. "Aufgrund der Unterlagen, die wir von der Tour-Direktion erhalten haben, halten wir es für unmöglich, vorläufig mit Jan Ullrich, Oscar Sevilla und Rudy Pevenage weiter zu arbeiten."

Es war ein kurzes Statement des T-Mobile-Teams, das einen Tag vor der 93. Tour de France den Radsport erschütterte. Für Ullrich, der in der vergangenen Dekade so manche Höllenqual in den französischen Bergen durchlitten hatte, war es der Beginn eines tiefen Falls, mit dem trotz der Entwicklungen in den Wochen zuvor nur wenige gerechnet haben dürften.

Keine andere Wahl

"Die Faktenlage widerspricht den Unschuldsbeteuerungen von Ullrich so stark, dass wir handeln mussten, um unserem Grundsatz vom sauberen Sport noch folgen zu können", erklärte T-Mobile Sprecher Stefan Wagner die Vorgehensweise des einstigen deutschen Vorzeige-Teams der Telekom, welches im Zuge der immer tiefgreifenderen Erkenntnisse selbst im Dopingsumpf versinken sollte.

Nach Hausdurchsuchungen sowie Verdächtigungen durch die Medien hatte die spanische Justiz bereits die Bombe platzen lassen und die Verantwortlichen zum Handeln gezwungen.

Zum Verhängnis wurden Ullrich sowie 57 weiteren Fahrern, unter denen sich mit Ivan Basso auch ein anderer Tour-Favorit befand, Blutbeutel sowie Listen, die die spanische Guardia Civil während der so genannten Operacion Puerto beim spanischen Arzt Eufemiano Fuentes gefunden hatte. Der heute 61-jährige Fuentes wurde als Schlüsselfigur des wohl größten Blutdopingskandals der Geschichte in Gewahrsam genommen und später verurteilt.

Von einem Moment auf den anderen waren all die Jahre, die Ullrich die Radsport-Fans in Deutschland mit starken Auftritten bei den großen Klassikern, mit seinem unbändigen Willen und dem damit verbundenen Hunger nach Erfolg begeistert hatte, praktisch wertlos. Zehn Jahre nach einem viel umjubelten Tour-Debüt in Frankreich, das den Sport verändert hatte.

Der Wille, der Beste zu sein

Denn gleich in seinem ersten Anlauf bei der Tour 1996 hatte sich der Youngster aus Rostock in bestechender Form präsentiert. An der Seite seines dänischen Kapitäns Bjarne Riis, dem er als Helfer zugeteilt war, verdrängte der 22-Jährige die Konkurrenz und landete auf Rang zwei der Gesamtwertung hinter Riis. Einige hatten ihm bereits den großen Coup zugetraut.

Auch in die Tour im nachfolgenden Jahr startete er als Helfer von Riis. Nachdem dieser jedoch nach einem Sturz einen Rückstand hatte und zudem anerkennen musste, dass sein jüngerer Teamkollege deutlich mehr in den Beinen hatte, gab er Ullrich den ersehnten Freifahrtsschein.

"Wenn du dich stark genug fühlst, fahr los", sagte Riis zum Deutschen. Ullrich fuhr.

Richard Virenque? Musste abreißen lassen. Marco Pantani? War ebenfalls chancenlos. Ullrich schnappte sich in Andorra nicht nur das Gelbe Trikot, er behielt es auch bis zur Zielankunft in Paris. Er demütigte seine Gegner ein ums andere Mal, schmetterte alle Angriffsversuche ab - und krönte sich so zum ersten deutschen Sieger der Tour. Kein deutscher Fahrer hatte zuvor die Qualitäten, die Rundfahrt zu gewinnen. Ein Held war geboren.

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Ein tiefer Fall

Es folgten fünf weitere zweite Plätze sowie geschichtsträchtige Duelle - und letztlich der 30. Juni 2006. Der Husarenritt 1997 sowie die Erfolge danach wurden eine Dekade später in ein anderes Licht gerückt.

Der Sportler, der sich in Deutschland in einer Liga mit Namen wie Boris Becker oder Michael Schumacher befand, verlor alles - zumindest in den Augen der Öffentlichkeit. Ullrich wurde in die Defensive gedrängt.

"Ich bin in einem absoluten Schockzustand. Das ist das Schlimmste, was mir bisher in meiner Karriere passiert ist", hatte Ullrich kurz nach seiner Suspendierung erklärt. Er sehe sich nicht als Täter, sondern als Opfer und "werde versuchen, seine Unschuld mit Hilfe eines Anwalts zu beweisen", so der damals 32-Jährige.

"Ich kann nur sagen, dass ich nach wie vor nichts mit der Sache zu tun habe."

In einer denkwürdigen Pressekonferenz in Hamburg im Jahr 2007 hielt der gefallene Star einen bizarren Monolog, in dem er zwar seinen Rücktritt erklärte, gleichzeitig aber erneut sämtliche Dopinganschuldigungen von sich wies. Fragen der Journalisten waren nicht gestattet.

Geld löst keine Probleme

Etwas konnte Ullrich jedoch nicht leugnen: Die DNA-Spuren befanden sich in gleich mehreren Blutbeuteln Fuentes, der in seinen Unterlagen zudem von "Jan" sowie "Hijo Rudicio", was übersetzt "Rudis Sohn" bedeutet und eindeutig auf Pevenage anspielt, sprach.

Auch die Staatsanwaltschaft Bonn bewertete die Beweise als schlüssig und leitete ein Verfahren gegen den einstigen Muster-Athlet ein. In den kommenden Jahren folgten Gerichtsverhandlungen sowie einstweilige Verfügungen, wie gegen den Molekularbiologen Werner Franke, der mit Summen hantierte hatte, die Ullrich Fuentes gezahlt haben soll.

Ullrich verstrickte sich in Lügen und verschanzte sich hinter vagen Behauptungen.

Trotz der Beweislast stellte die Staatsanwaltschaft nur ein Jahr nach der Zuordnung das Verfahren ein. Ullrich leistete im Gegenzug eine Zahlung in sechsstelliger Höhe für gemeinnützige Zwecke. Von einem Schuldeingeständnis wollte er aber nichts wissen.

Eine späte Einsicht

Erst im Jahr 2013 brach der einst so gefeierte Star endgültig sein Schweigen. "Ja, ich habe Fuentes-Behandlungen in Anspruch genommen", sagte er dem Focus. Er habe jedoch keine weiteren illegalen Mittel verwendet als sein eigenes Blut, so der Tour-Sieger.

Die Rechtfertigung des Idols vieler Kinder in 90er-Jahren, der 1997 und 2003 zum Sportler des Jahres gewählt wurde, verdeutlichte eine Problematik, von der der Radsport auch Jahre später in Mitleidenschaft gezogen werden sollte. "Fast jeder hat damals leistungssteigernde Substanzen genommen. Ich habe nichts genommen, was die anderen nicht genommen haben. Betrug fängt für mich dann an, wenn ich mir einen Vorteil verschaffe. Dem war nicht so. Ich wollte für Chancengleichheit sorgen", erklärte Ullrich seinen Pakt mit dem Teufel.

"Ich habe gedacht, ich habe alles richtig gemacht. Ich habe ja nicht gesagt, ich hab nicht gedopt. Ich hab immer gesagt, ich habe keinen betrogen aus meiner Sicht", so Ullrich, dessen Ergebnisse ab dem Jahr 2005 bereits 2012 durch den CAS gestrichen worden waren und der zudem mit einer durch seinen Rücktritt eher symbolischen Sperre von zwei Jahren belegt wurde. Seinen Titel aus den 90er-Jahren oder auch das olympische Gold aus dem Jahr 2000 durfte er jedoch behalten.

"Erst im Nachhinein habe ich gesehen, dass ich einen Fehler gemacht habe. Einen Riesen-Fehler." Er sei dennoch "stolz auf seine Karriere", nur "das Ende sei eine Katastrophe", begründete Ullrich, der betonte bei seinen Erfolgen vor der Jahrtausendwende nicht gedopt gewesen zu sein.

Tour-Sieg ohne Doping? Unmöglich

Eine Aussage, die dem Jahre später überführten US-amerikanischen Superstar Lance Armstrong nur ein müdes Lächeln abgewinnen konnte. "Es ist unmöglich, die Tour ohne Doping zu gewinnen", sagte Armstrong, der 2013 ein umfassendes Doping-Geständnis abgelegt hatte, in einem Interview mit Le Monde. "Doping existiert schon seit dem Altertum und wird auch weiter existieren. Es wird nie enden."

"Ich bin nicht besser als Armstrong, aber auch nicht schlechter. Die großen Helden von früher sind heute Menschen mit Brüchen, mit denen sie klar kommen müssen", erklärte Ullrich.

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Unter den Folgen des Blutdopingskandals aus dem Jahr 2006, dessen ganzes Ausmaß, welches weit über den Radsport hinausging, auch eine Dekade später nicht ersichtlich ist, leidet der Radsport noch heute. Die Helden der diesjährigen Tour werden ebenfalls unter besonderer Beobachtung stehen. Die Leistungen der aktuellen Generation ohne Hintergedanken anerkennen, werden nur die wenigsten. Der Verdacht fährt immer mit.

Der Etappenplan der 103. Tour de France

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