Low vermisst "Beine nicht mehr"

SID
Low kann zehn Jahre nach ihrem Unfall wieder strahlen - und holte Gold
© getty

Den Fremden zu finden, der sie 2006 vor einen Zug gestoßen hat und verschwand, treibt Vanessa Low nicht an. "Das spielt gar keine Rolle. Wirklich", sagt sie: "Mein Unfall liegt knapp zehn Jahre zurück, da macht man sich keine Gedanken mehr. Es ändert ja auch nichts."

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Das Gefühl, fürchterlich viel ändern zu müssen, hat Vanessa Low derzeit sowieso nicht. "Ich bin sehr glücklich", sagt sie: "Ich habe ein sehr tolles Leben, habe vieles erreicht, was ich sonst vielleicht nicht erreicht hätte. Deshalb vermisse ich meine Beine heute gar nicht mehr."

Heute ist Lows Gesicht eines der Leichtathletik-WM der Behindertensportler in Katar - und das nicht nur, weil es ausgesprochen hübsch ist.

Im Weitsprung gewann sie ihre erste Goldmedaille, sprang dabei im zweiten Versuch Weltrekord (4,72 m) und verbesserte ihn im dritten gleich nochmal (4,79). 900 Glückwünsche habe sie bekommen, berichtet die 25-Jährige, "und das aus aller Welt".

Damit hatte Low eines der größten Ziele erreicht, das sie sich 2006 kurz nach dem Aufwachen aus dem zweimonatigen Koma gesetzt hatte: eine Medaille bei einer internationalen Sportveranstaltung.

"Viele schlechte Jahre"

Dass sie überhaupt mit zwei Prothesen würde durchs Leben gehen können, hatten die Ärzte damals fast ausgeschlossen. "Das war damals nicht normal", erzählt Low. Aber im Rollstuhl sitzen kam für den damals schon sportbegeisterten Teenager nicht in Frage.

Wenn Vanessa Low heute in ihren Prothesen geht, ist kaum ein Unterschied zu erkennen. Doch der Weg dorthin war weit. "Das erste Mal ohne Krücken gehen konnte ich erst nach zweieinhalb Jahren", sagt sie:

"Ich hatte viele Stürze und viele schlechte Jahre, in denen ich darüber nachgedacht habe, aufzuhören. Aber ich war als Kind schon eine sehr sture Persönlichkeit. Und ich hatte immer das Ziel im Kopf, eine Medaille zu gewinnen. Deshalb ging es einfach nicht aufzuhören."

Dass sie heute ein Vorbild ist, für Sportler und für Menschen mit einer ähnlichen Geschichte, ist ihr durchaus bewusst. "Ich finde es aber schade, wenn man mich nur über meine Beine definiert", sagt sie: "Was mich bekannt gemacht hat, ist nicht, dass ich keine Beine mehr habe, sondern was ich daraus gemacht habe."

Das Herz liegt in Deutschland

Am Freitag will sie auch Gold über 100 m gewinnen, "auch wenn Silber wahrscheinlicher ist. Aber man trainiert nicht so hart, um Silber zu gewinnen". Ihr Halbfinale am Donnerstag gewann sie deutlich. Auch bei den Paralympics im nächsten Jahr in Rio soll Gold her, wie es dann weitergeht, ist offen.

"Wenn ich mich nicht mehr verbessern kann, ist es für mich vorbei", sagt Low, die derzeit aus Trainingsgründen in Oklahoma/USA wohnt und im kommenden Herbst zu ihrem Freund, dem 100-m-Weltmeister Scott Reardon ("Wir haben jetzt eine kleine Gold-Familie"), nach Australien ziehen wird.

"Ich habe nicht geplant, nach Deutschland zurückzukommen", sagt sie, ein Verbandswechsel ist aber nicht geplant: "Im Moment ist mein Herz in Deutschland."

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