"Ward wird im Ring zum Berserker"

Andre Ward (l.) ist bisher ungeschlagen
© getty

Sergey Kovalev und Andre Ward bestreiten in der Nacht auf Sonntag den WM-Kampf des Jahres (Sonntag, 3 Uhr live auf DAZN). SPOX sprach im Vorfeld mit DAZN-Kommentator Uli Hebel und Experte Serge Michel über die unterschiedlichen Qualitäten der beiden Boxer, den Favoriten und das Jahr 2016. Außerdem berichtet Michel, einer der besten deutschen Amateur-Boxen, über sein bewegtes Leben, das ihn vom Gefängnis bis nach Rio zu den Olympischen Spielen brachte.

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SPOX: Herr Hebel, Sie kommentieren den Mega-Fight zwischen Kovalev und Ward auf DAZN. Wie groß ist bereits die Vorfreude?

Uli Hebel: Ich habe richtig Bock drauf! So ein Kampf ist das, was die Fans sehen wollen und auf das sie warten. Ich informiere mich schon die ganze Zeit, was wer sagt und was es Neues gibt. Das ist genau das Feeling, das man braucht. Das ist definitiv einer der besten Kämpfe seit Jahren.

SPOX: Sie, Herr Michel, werden an Herrn Hebels Seite als Experte tätig sein. Sind Sie schon aufgeregt?

Serge Michel: Ich freue mich riesig drauf, aber aufgeregt bin ich eigentlich nicht. Es wird eine spannende Erfahrung.

SPOX: Wie Kovalev und Ward sind Sie, Herr Michel, in der Halbschwergewichtsklasse aktiv. Was macht die beiden aus? Die Kampfstile könnten schließlich kaum unterschiedlicher sein.

Michel: Kovalev ist in dem Duell ganz klar der Puncher. Ward hingegen ist eher der Spieler, vielleicht der schlauere Boxer. Genau dieser Gegensatz macht den Fight so spannend. Kovalev wird so wie immer versuchen, in die Offensive zu gehen, von Beginn an bestimmend zu sein und die Möglichkeit suchen, Ward vorzeitig zu schlagen. Der wiederum wird versuchen, seinen Gegner auf Distanz zu halten.

Hebel: Das denke ich auch. Es ist die klassische Konstellation, die es im Boxen eigentlich so oft gibt und doch in der Klasse so selten ist. Mit Kovalev hat man einen, der die Power hat, der in der Offensive stark ist und wahnsinnig viel Herz mitbringt. Mit Ward hingegen einen, der eine klasse Beinarbeit hat und technisch super ausgebildet ist. Auf den ersten Blick wirkt er vielleicht wie ein normaler Mensch, doch im Ring kann er zum Berserker werden.

Kovalev im SPOX-Interview: "Ich weiß, wie ich Ward zerstöre"

SPOX: Glauben Sie, dass Kovalev mit seinen kraftvollen Schlägen auf den K.o. gehen wird?

Hebel: Ja, das muss sein Ziel sein. Er selbst sagt zwar, dass das nur das i-Tüpfelchen wäre, aber klar ist: Je länger der Kampf dauert, desto besser ist das für Ward. Der hat mehr als 100 Runden mehr Profierfahrung und ist entsprechend konditionell auf einem anderen Level. Kovalev wird auch an seiner Stärke verlieren, wenn seine Fäuste immer wieder an der Deckung abprallen.

Michel: Ich sehe das etwas anders. Man sollte nie einen K.o. suchen und erzwingen - Kovalev ist dafür auch erfahren genug. Trotzdem wird er seinem Kampfstil treu bleiben und die Sache natürlich offensiv mit Druck angehen.

SPOX: Das Duell der beiden gilt als der Boxkampf des Jahres. Wird er tatsächlich so großartig, wie alle Fans hoffen?

Michel: Ich hoffe es. (lacht) Weil der Kampf in meiner Gewichtsklasse ist, ist er für mich natürlich besonders spannend. Ich fiebere ihm schon richtig entgegen! Allerdings habe ich ein bisschen die Befürchtung, dass es wie bei Mayweather gegen Pacquiao werden könnte. Den Kampf fand ich nicht so spannend, weil Mayweather mit seiner Defensive sehr viel unterbunden hat. Für Samstag wünsche ich mir da also mehr.

Hebel: Wer glaubt, dass Blut durch den Ring spritzt, liegt falsch. Ich glaube nicht, dass wir da zwei gezeichnete Boxer sehen werden, das ist selten so. Und wenn wir ehrlich sind, sind das dann auch meist die schlechteren Kämpfe. Die ganz großen Szenen werden eher im Detail liegen. Mir macht es großen Spaß, einem Ward bei seiner ganz normalen Arbeit zuzuschauen, die auf diesem Niveau einfach einzigartig ist. Das Gleiche gilt für Kovalevs Trieb nach vorne. Das ist die Kunst und der Sport in seiner Perfektion. Ich bin mir daher 100 prozentig sicher, dass wir von diesem Kampf nicht enttäuscht sein werden.

SPOX: Wagen wir mal eine Prognose: Wer ist Ihr Favorit?

Michel: Für mich ist das Kovalev, einfach aus einem Bauchgefühl heraus. Letztlich ist das aber eine sehr offene Angelegenheit.

Hebel: Mit der offenen Angelegenheit hat Serge Recht. Ich setze im Zweifel aber immer auf den besseren Defensiv-Boxer, weil der in der Regel mit mehr Plan und mit weniger Schaum vor dem Mund an die Sache herangeht. Allerdings hat Ward nach seiner längeren Pause keine Top-Leute mehr geboxt, insofern ist das wirklich eng. Mein Gefühl sagt Ward, aber ganz knapp mit 51 zu 49.

SPOX: Das Boxjahr 2016 wird in der Öffentlichkeit als ein schwaches angesehen. Wie ist Ihre Meinung?

Hebel: Wir hatten tatsächlich nicht viele große Kämpfe. Der Fight zwischen Canelo Alvarez und Amir Khan war der einzige, der noch ungefähr in diese Reichweite kommt. Im Boxen ist es selten geworden, dass sich die ganz Großen der Gewichtsklassen treffen.

Michel: Viele Kämpfe wurden abgesagt, ob das nun Klitschko gegen Fury oder andere waren. Größtenteils lag das aber an Krankheiten oder Verletzungen und das ist im Sport normal, das kann immer passieren. Es kann nicht alles zu 100 Prozent so laufen, wie man sich das wünscht. Leider.

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SPOX: Herr Michel, kommen wir nun auf Ihr Leben zu sprechen. Sie sind in Russland geboren, zogen mit Ihren Eltern als Kind nach Deutschland. In Ihrer Jugend sind Sie dann auf die schiefe Bahn geraten und wurden kriminell. Wie kam es dazu?

Michel: Das ist eine gute Frage. Ich denke, es lag an meiner Null-Bock-Einstellung. Das fing in der Schule an, wo ich alles schleifen ließ und ohne Abschluss nach der achten Klasse Hauptschule geflogen bin. Dann nahm alles so seinen Lauf genommen. Ich hatte keine Perspektive, keinen Plan vom Leben und habe einfach in den Tag hinein gelebt.

SPOX: ... und haben dann Gleichgesinnte gefunden?

Michel: Richtig, das dauerte nicht lange. Allerdings möchte ich niemandem die Schuld geben und sagen, dass ich falsche Freunde hatte. Es waren einfach Leute, die dasselbe Interesse hatten. Zusammen hat man dann Mist gebaut. Ich betone aber immer, dass ich das selbst zu verantworten habe. Mit 16 Jahren sollte man schon wissen, was gut und was schlecht ist.

SPOX: Wie sind Sie dann zum Boxen gekommen?

Michel: Mein Vater ist Trainer, entsprechend früh kam ich damit in Berührung. Meinen ersten Kampf hatte ich mit zwölf Jahren. Regional hatte ich damals schon einige Erfolge, national kam ich aber nicht wirklich weiter. Vier Mal habe ich den Sprung zur deutschen Meisterschaft verpasst, das hat mir auf jeden Fall einen Knacks gegeben und mich negativ beeinflusst. Ich habe dann vier Jahre lang gar nicht geboxt und stattdessen Mist gemacht - Einbrüche, Gewalttaten und ähnliches.

SPOX: Wie haben Sie dann die Kurve gekriegt?

Michel: Das lag vor allem an meiner Familie, an meinem Vater und meiner jetzigen Frau. Wenn diese Leute mich nicht aufgefangen hätten, dann hätte das alles nicht funktioniert. Als meine Frau schwanger war, saß ich im Gefängnis. Da musste ich eine Entscheidung treffen: Entweder bekomme ich jetzt mein Leben in den Griff oder meine Frau wird mich verlassen und mein Kind wird jemand anderen "Papa" nennen. Diese Vorstellung hat mir Angst gemacht, das war der Wendepunkt. Noch im Knast habe ich angefangen zu trainieren.

SPOX: Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass sie nur einige Jahre später einer der besten deutschen Amateur-Boxer sind und bei den Olympischen Spiel mitmachen dürfen?

Michel: (lacht) Nein, das hätte ich mir niemals träumen lassen. Nicht wegen meiner Leistung, sondern weil ich dachte, dass mir wegen meiner Vergangenheit alle Türen verschlossen werden. Davor hatte ich immer Angst.

SPOX: Mittlerweile arbeiten Sie als Sportsoldat bei der Bundeswehr.

Michel: Ja, das ist für mich ein sehr großer Erfolg. Zu Beginn wurde ich wegen meiner Vergangenheit natürlich ganz genau unter die Lupe genommen, doch letztlich gab man mir die Chance, als Sportsoldat zu dienen. Für dieses Vertrauen möchte ich danken und versuchen, mit meinen Erfolgen - insbesondere mit meiner Qualifikation für die Spiele in Rio - etwas zurückgeben.

SPOX: Was bedeutet der Boxsport für Sie?

Michel: Es ist eine Hassliebe. Klar hat man die Schmerzen und Qualen, aber Boxen ist für mich nicht einfach nur jemandem ins Gesicht zu schlagen, es ist eine Kampfkunst.

SPOX: Was würden Sie anderen Jugendlichen raten, die ebenfalls in Konflikt mit dem Gesetz geraten sind?

Michel: Man darf einfach nie aufgeben, egal in welcher Lage man sich gerade befindet. Mit dem Sport ist vieles, vieles möglich. Man muss einfach kämpfen, sich Ziele setzen und diese dann verfolgen. Natürlich geht alles nur Step by Step, aber man muss diese Entscheidung treffen, um da heraus zu kommen.