"Der Weg in die Hölle geht schnell"

Charly Graf (r.) bestritt als erster Häftling in Deutschland einen offiziellen Boxkampf
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SPOX: Sie sprechen es an. Sie haben im Knast wieder mit dem Boxen angefangen und durften 1984 sogar als erster Häftling in Deutschland einen offiziellen Kampf außerhalb des Gefängnisses bestreiten. Wie kam es dazu?

Graf: Ich habe einen Brief an einen Veranstalter geschrieben, in dem ich erklärte, eine offizielle Genehmigung zu haben. Das war natürlich eine Lüge. Aber auf einmal war das ein großes Thema und der Gefängnisdirektor wollte sich wohl nicht die Blöße geben, alles aufzuklären. Er war ja auch in den Medien, das hat ihm wohl gefallen.

SPOX: Wie liefen Ihre Ausflüge ab?

Graf: Vier Beamte begleiteten mich zum Ring. Sie standen während des Kampfes sogar in meiner Ecke und sollten mich coachen, aber sie hatten keine Ahnung vom Boxen. Die meisten dachten wohl auch, es wäre eine einmalige Sache. Aber ich habe gewonnen und durfte weitermachen.

SPOX: Haben Sie nie über eine Flucht nachgedacht?

Graf: Nein, keine einzige Sekunde. Ich hatte ja sowieso nicht mehr lange vor mir. Und sich ins Ausland abzusetzen, fand ich nicht wirklich reizvoll. Außerdem wollte ich das den Wachen, die bei meinen Kämpfen dabei waren, nicht antun.

SPOX: Wie haben die anderen Häftlinge auf Ihre Box-Ausflüge reagiert?

Graf: Dazu muss man wissen, dass normalerweise jeder Gefängnisinsasse ein Egomane ist, der sich nicht über das Glück der anderen freut. Aber nach meinem ersten Kampf bin ich durch den Gang zu meiner Zelle gegangen, es war drei, vier Uhr nachts. Und auf einmal haben alle Häftlinge einen Heidenlärm gemacht und mich gefeiert. Das war schon eine unvergessliche Situation.

SPOX: Sie wurden in den 80er Jahren sogar noch mal Deutscher Meister, verloren den Titel aber dann in einem sehr kontroversen Kampf gegen Thomas Classen.

Graf: Der Kampf war geschoben, dafür konnte mein Gegner allerdings nichts. Er hat aber Klasse bewiesen, als er mir 2012 die Plakette überreicht hat, als symbolische Entschuldigung. Das rechne ich ihm hoch an.

SPOX: Strittige Punktentscheidungen gehören auch heutzutage noch zum Boxen dazu. Hat sich nichts verändert?

Graf: Naja, heutzutage machen sie das zumindest eleganter. Man sucht schon im Vorfeld Gegner aus, die Fallobst sind, dann läuft das sauberer ab. Das braucht aber auch niemanden zu wundern, denn die Leute, die damals etwas im deutschen Boxen zu sagen hatten, sind ja immer noch im Geschäft.

SPOX: 1988 wurden Sie aus der Haft entlassen und schlugen sich danach mit Gelegenheitsjobs im Allgäu durch, unter anderem als LKW-Fahrer und Vieh-Auktionator. Haben Sie sich dort vor Ihrer Vergangenheit versteckt?

Graf: Nein, ich habe mich nicht versteckt, ich wollte einfach weg aus Mannheim. Dort war ich in einer Schublade gefangen, im Allgäu konnte ich neu anfangen, niemand hat mich gekannt. Es war wichtig, Abstand zu gewinnen, auch wenn es ein Kulturschock war.

SPOX: Erst rund um die Jahrtausendwende kehrten Sie nach Mannheim zurück.

Graf: Ja, mit 300 Mark bin ich damals in Mannheim angekommen. Den Tag werde ich nie vergessen. Ich bin durch die Stadt gelaufen, an einem Bistro vorbei, und ein Typ hat mich offenbar erkannt und mich auf ein paar Bier eingeladen. Danach wollte er mir unbedingt einen Ring im Wert von 10.000 Mark schenken. Ich habe mich eigentlich unwohl gefühlt, weil er auch schon angetrunken war. Aber er ließ nicht locker und sagte, dass er von Herzen komme, und das Geld hätte ich ja durchaus gebrauchen können. Als Gegenleistung wollte er nur ein paar alte Pokale und Siegerkränze von mir.

SPOX: Die Sie ihm auch gegeben haben?

Graf: Ja, aber nicht sofort. Die lagerten noch im Allgäu, also bin ich mit meinem letzten Geld mit dem Zug zurückgefahren und habe sie geholt. Ich sah wohl aus wie einer aus der Psychiatrie, weil ich den Kranz für die Deutsche Meisterschaft um den Hals tragen musste, mein Koffer war dafür einfach zu klein. Am nächsten Tag bin ich dann ins Pfandhaus, und was stellte sich heraus: Der Ring war maximal 80 Mark wert. Wenn man 12 Jahre im Allgäu ist, verliert man wohl den Sinn für die Realität. (lacht)

SPOX: Nicht jede Geschichte nach Ihrer Rückkehr in die Heimat endete aber so tragisch. Sagt Ihnen der Name Rainer Spagerer etwas?

Graf: Klar, das war auch verrückt. Rainer hat als Kind in einer Eigenheimsiedlung gewohnt, die direkt neben den Baracken lag. Für uns waren das immer die Reichen. Nun war es aber so, dass alle Kinder auf dem Weg zur Schule durch unser Viertel mussten. Ich habe mir Rainer angeschaut und ihm den Weg abgeschnitten, er konnte mir nicht ausweichen und musste mir sein Pausenbrot geben. Das ging eine Zeit lang so weiter, bis seine Mutter irgendwann zwei Brote schmierte, damit jeder von uns eines hatte.

SPOX: Und wie kommt die Verbindung zu Ihrer Rückkehr nach Mannheim?

Graf: Ich musste mir eine Unterkunft suchen und schaute bei einer Wohnungsbaugesellschaft vorbei. Als ein Mitarbeiter meinen Name hörte, grinste er mich an und sagte: "Um Gottes Willen, mein Chef wartet schon seit 30 Jahren auf Sie." Also hat er mich zu ihm geschickt - und vor mir stand auf einmal Rainer. Ich dachte schon, dass ich mir die Wohnung jetzt abschminken kann, aber er hat mir unsere gemeinsame Kindheit nicht krumm genommen. Wir haben immer noch Kontakt.

SPOX: Auch beruflich scheinen Sie mittlerweile Ihr Glück gefunden zu haben. Sie arbeiten als Sozialarbeiter mit Kindern und erzählen Ihnen aus Ihrem Leben. Erfüllt Sie das?

Graf: Ja, es macht mir viel Spaß. Ich bin nun mal das perfekte Beispiel, wie es nicht laufen soll. Deswegen kann ich ihnen Tipps geben und sie vertrauen mir. Sie sollen verstehen, dass Gewalt etwas für Feiglinge ist. Das kommt gerade bei den Jungen an, weil niemand feige sein will.

SPOX: Im Vergleich zu Ihrer Rotlicht-Zeit dürften Sie aber weitaus weniger verdienen, oder?

Graf: (lacht) Das kann man nicht vergleichen. Aber es reicht zum Überleben, von allem anderen lasse ich mich nicht mehr aus der Spur bringen. Ich hatte früher sicherlich ein größeres soziales Umfeld, aber das waren andere Zeiten. Es ist okay, wie es ist.

Seite 1: Graf über die Alkoholsucht, die Baracken und sein Box-Debüt

Seite 2: Graf über das Rotlichtmilieu, den Knast und einen Ex-RAF-Terroristen

Seite 3: Graf über sein Comeback, einen bitteren Trick und seinen neuen Job

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