Einzelkämpfer unter schützender Hand

Von Daniel Reimann
Manuel Neuer ist mit 25 Jahren möglicherweise der beste Keeper der Welt
© Imago

Die Bundesliga ist mitten in der heißen Phase der Saisonvorbereitung. In den Trainingslagern wurden die Grundlagen für eine lange Saison gelegt. Auch im Amateurfußball bereiten sich die Klubs bis hinunter zur Kreisklasse auf die neue Spielzeit vor. Die spannende Frage: Wie trainiert man richtig? Wie hat sich die Methodik in den letzten Jahren entwickelt? SPOX geht der Frage der Trainingsmethodik theoretisch und in Selbstversuchen auf den Grund. Teil 5: Torwarttraining.

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Der 20. Juli 2011 - aus meteorologischer Sicht wohl der hässlichste Tag des Sommers. Am Abend vor meiner kleinen Torwarttraining-Schnuppereinheit bei der SpVgg Unterhaching studiere ich noch schnell die Wettervorhersage, in der Hoffnung auf ein Wunder. Vergeblich.

50 Liter Niederschlag pro Quadratmeter wird für den Mittwoch vorausgesagt, örtlich können es sogar bis zu 80 Liter werden. Lecker! Dazu geschmeidige zwölf Grad und starke Windböen. Also schnell das Schlammcatcher-Equipment eingepackt und am nächsten Tag ab nach Unterhaching. Fehlt nur noch das passende Amphibien-Gefährt...

Um 18 Uhr treffe ich am Hachinger Sportpark ein, das Training der Profis ist längst vorbei. Torwarttrainer Wolfgang Kellner, der in dieser Funktion bereits zahlreiche DFB-Jugendteams betreut hatte und seit Juni 2011 bei Unterhaching unter Vertrag steht, trainiert jedoch noch immer. Doch nicht etwa mit den Torhütern der ersten Mannschaft.

Torwarttraining ab der E-Jugend - die Vorbilder als Coach

Zweimal pro Woche nimmt er eine Handvoll Keeper aus der Hachinger Jugend unter seine Fittiche, trainiert sie und macht sich ein Bild von ihren Fähigkeiten. So auch an diesem Mittwoch.

In seiner Zeit beim DFB entdeckte er einst Talente wie Oliver Baumann und Kevin Trapp und machte sie zu Nationaltorhütern in den U-Mannschaften. Der eine ist heute Stammkeeper beim SC Freiburg, der andere stand nach starken Leistungen für Kaiserslautern beim FC Schalke 04 als Neuer-Nachfolger zur Debatte.

Beide gelten als Riesentalente und stehen bereits auf dem Zettel von Bundestorwarttrainer Andi Köpke, wie dieser unlängst im SPOX-Interview verlauten ließ.

"Ich bin für alle Torhüter bei Unterhaching zuständig und arbeite eng mit dem bisherigen Torwarttrainer Ralf Bernhard zusammen", erklärt Kellner später im Gespräch mit SPOX. "Ich habe ein Konzept für ein gesundheits- und leistungsorientiertes Torwarttraining entwickelt, das von der E-Jugend bis zu den Profis absolviert wird."

Doch nicht nur er selbst kümmert sich um den Torwartnachwuchs bei der Spielvereinigung. Auch die vier Profikeeper sollen sich in die Rolle des Lehrenden hineinversetzen: "Alle Torhüter aus der ersten Mannschaft werden in Zukunft jeweils einen Torwart aus den unteren Klassen unter meinen Anweisungen trainieren", so Kellners Plan.

Der Torhüter: "Einzelsportler im Mannschaftssport"

Es ist eine von vielen neuen Methoden im Bereich Torwarttraining. Eine Disziplin, die trotz ihres vergleichsweise zarten Alters schon viele grundlegende Veränderungen erlebte.

In der deutschen Nationalmannschaft machte Sepp Maier 1988 den Anfang, indem er erstmals den Posten des DFB-Torwarttrainers einnahm. Heutzutage kommt kein Profi-Team mehr ohne den Mann hinter den Schlussmännern aus. Vor allem weil das Torwarttraining im Laufe der Zeit immer effektiver, detaillierter und spielnäher geworden ist.

"Die Torhüter genießen mittlerweile ein deutlich besseres Training", weiß auch Kellner. "Es wird sich viel mehr Gedanken um ihre Ausbildung gemacht. Es ist enorm wichtig, dass im Training extra jemand für die Torhüter abgestellt wird, der nur für sie zuständig ist. Denn der Torwart ist eine Art Einzelsportler in einem Mannschaftssport."

Winkelgrad und Muskelgruppen: Training bis ins kleinste Detail

Zentral für das Training des 48-jährigen Ex-Keepers sind seine eigenen Videoanalysen. "Ich lasse sehr oft im Training eine Videokamera mitlaufen. So gibt es von jedem Torhüter auf meinem Computer genügend Sequenzen, um seine Bewegungsabläufe zu analysieren."

Was auf den ersten Blick unspektakulär klingt, wird im Detail umso interessanter. In Kellners Videoanalyse setzt sich das große Ganze aus vielen unscheinbaren und zugleich unverzichtbaren Kleinigkeiten zusammen.

So sind schon zahlreiche Faktoren notwendig, nur um beispielsweise den seitlichen Sprung eines Torhüters zu optimieren, wie Kellner erläutert.

"Durch meinen Beruf als Physiotherapeut und Heilpraktiker denke ich in Muskelgruppen. Ich überlege, wie die Bewegung optimal aussehen soll, welche Muskelgruppen dafür aktiviert werden müssen, welcher Winkelgrad der beste beim Absprung ist, welche Muskulatur bereits davor angeregt werden muss", so Kellner.

Videoanalyse lässt keine Schwächen unbemerkt

Wie viel bereits eine einzige Übung über einen Torwart aussagt und wie hoch damit der Nutzen von Videoanalysen sein kann, durfte auch ich, der SPOX-Reporter, bei meinem eigenen kleinen Einsatz als Torwart erleben.

Die zu absolvierende Übung ist schnell erklärt: Auf Höhe des Elfmeterpunktes warten zwei Gegenspieler im Abstand von etwa drei Metern mit je einem Ball (siehe Diashow). Mehrmals nacheinander bekomme ich die Kugel locker und flach aufs Tor geschossen, später auch geworfen. Eigentlich keine große Herausforderung.

Wäre da nicht die Tatsache, dass ich nicht vorher wusste, welcher der beiden anlaufenden "Gegner" denn schießen würde. Zuvor wurde unter den Schützen eine zufällige Reihenfolge abgemacht, ich musste mich folglich überraschen lassen und möglichst schnell reagieren.

"Dadurch, dass der Torwart nicht weiß, von wem der Ball kommt, ist diese Übung besonders spielnah und zudem eine gute Basisübung für eine Videoanalyse", so Kellners Idee.

Denn als Torwarttrainer kann man sich bereits aufgrund dieser einzigen Übung ein ausführliches Bild über die Fähigkeiten und Mängel eines Keepers machen. Stimmen Körperstellung und Armhaltung? Spekuliert der Torwart oder nicht? Mit welchem Bein drückt er sich ab? Wie reagiert er auf flache und hohe Bälle?

Die Videoanalyse lässt kaum eine Frage offen und kaum eine Schwäche unbemerkt.

Kraft, Beweglichkeit, Schnelligkeit, Ausdauer

In den Anfangszeiten des Torwarttrainings war man von solch ausführlichen Videoanalysen noch weit entfernt. Auch die Akzentuierung der einzelnen Disziplinen im Torwarttraining hat sich stark verschoben. "Früher hat man den Fokus viel zu sehr auf Ausdauer gelegt", sagt Kellner.

Zwar wird auch heute noch die Fitness trainiert, doch meist sind diese Übungen schnelligkeitsbetont und deutlich besser ins restliche Programm eingebaut.

Auch in Kellners Trainingsprogramm sieht es ähnlich aus. Die Athletik wird in spezielle Übungen in das Torwarttrainings integriert, so bietet er ein "funktionelles, torwartspezifisches Training". Denn klar ist: "Man muss fit werden, um Torhüter sein zu können. Und nicht im Tor stehen, um fit zu werden."

"Das Torwartspiel wird immer komplexer"

Nicht nur im Bereich der Ausdauer hat das Torwarttraining zahlreiche Veränderungen durchgemacht. Auch die neue Rolle des Torhüters als erste und teilweise maßgebliche Station in der Spieleröffnung, die sich in den vergangenen Jahren immer mehr etabliert hat und die manche in der strittigen Bezeichnung "Torspieler" manifestieren wollen, hat einen wichtigen Einfluss auf die Trainingsmethodik.

Bei Kellner beispielsweise endet fast jede Übung mit dem Ablauf 'Ball fangen' - 'aufstehen' - 'Spiel eröffnen'. Auch DFB-Torwartcoach Köpke trägt den gewachsenen Ansprüchen an das fußballerische Können von Torhütern Rechnung: "Das Torwartspiel wird immer komplexer. Es sind Torhüter gefragt, die vernünftig Fußball spielen können", erklärt der 49-Jährige auf der Website des DFB.

Die Folge: Fußballspezifische Technikübungen im Torwarttraining nehmen zu. Mit erfreulichen Resultaten: "Die jungen Torhüter, die nachkommen, können ebenso gut im Feld spielen", sagt Köpke.

Jedes Training hat seine Grenzen

Allerdings stößt auch jedes noch so gute Torwarttraining irgendwo an seine Grenzen. In den Zeiten von "Jabulani", "Torfabrik" und anderen gemeingefährlich flatternden Spielgeräten würde sich manch ein Coach für seinen Torwart die Antizipationsfähigkeit eines Wahrsagers wünschen.

Auch Kellner gesteht an dieser Stelle ein: "Diese Dinge können wir nicht ändern. Mit den neuen Bällen und ihren ungewöhnlichen Flugbahnen ist die Antizipationsfähigkeit der Torhüter aber noch deutlich wichtiger geworden."

Sein Training hat er deswegen jedoch nicht verändert, andere taten das hingegen schon: Mexikos Torhüter trainierten 2010 zeitweise mit Football-"Eiern", um sich an die Unberechenbarkeit des WM-Balls "Jabulani" zu gewöhnen.

Auch im Bereich der sportlichen und körperlichen Fähigkeiten gibt es Hürden, die selbst mit bestem Training nicht zu überwinden sind. Für Kellner gilt dies vor allem in puncto Schnelligkeit: "Beim Thema Schnelligkeit ist vieles genetisch vorgegeben. Man kann es ein Stück weit trainieren, aber eben nur begrenzt."

2011: DFB startet Torwarttrainer-Ausbildung

Eine andere wichtige Hürde - nicht für die Torhüter selbst, sondern für die Trainer - wurde mittlerweile genommen: In diesem Jahr bietet der DFB erstmals eine Torwarttrainer-Ausbildung an.

Bisher war der Job des Torwarttrainings hierzulande mehr Berufung als Beruf, Kellner beispielsweise machte sein Torwarttrainer-Diplom noch in Österreich, wo diese Möglichkeit schon länger besteht.

Ein wichtiger Schritt für die Förderung der Torwarttrainer in Deutschland, schließlich sollen sie eines Tages die Nummer eins ihres Vereins trainieren. Mehr noch: Oftmals werden Torwarttrainer für ihre Schützlinge durch die ständige Nähe auch zur ersten Ansprechperson, zum Vorbild, ja sogar zum Mentor. Nachzufragen beispielsweise bei Rene Adler und Rüdiger Vollborn.

Auch Kellner ist sich dessen bewusst: "Der Einfluss eines Torwarttrainers ist enorm - positiv wie negativ. Er hat eine unglaublich große Verantwortung. Besonders wenn er dazu auch im Jugendbereich arbeitet. Diese Verantwortung muss er sich immer vor Augen halten, sonst kann auch alles nach hinten losgehen."

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