FC Bayern trifft auf Dynamo: Kiews Trainer-Pioniere Maslow und Lobanowskyj

Wiktor Maslow und Walerij Lobanowskyj
© spox

Mit nur wenigen Unterbrechungen stand Dynamo Kiew von 1964 bis 2002 unter dem Kommando der Trainer Wiktor Maslow und Walerij Lobanowskyj. In dieser Zeit revolutionierten sie den Fußball - hinsichtlich der Taktik, Trainingsgestaltung und Statistiknutzung. Sie gelten als die Väter des modernen Fußballs.

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Dieser Artikel wurde zum ersten Mal am 7. Juni 2018 veröffentlicht.

Anlässlich des Champions-League-Spiels zwischen dem FC Bayern und Dynamo Kiew (Mittwoch, 21 Uhr) erzählt SPOX noch einmal ihre Geschichte.

Kurz nachdem Maslow 1964 Trainer von Dynamo Kiew wurde, musste der ebenso talentierte wie beliebte Stammspieler Lobanowskyj den Klub verlassen. Warum? Das wurde nie geklärt.

Manche sagen, Lobanowskyj habe bei einer von Maslow angeordneten Runde Horilka, einem ukrainischen Wodka, nicht mitgetrunken. Andere, Maslow sei mit Lobanowskyjs individualistischem Spielstil nicht einverstanden gewesen. Schließlich zog er dem Pass zumeist das Dribbling vor und hatte außerdem die Angewohnheit, Ecken direkt zu versenken statt zu flanken. "Ich bin nicht gut mit ihm ausgekommen", resümierte Lobanowskyj später.

Während er fortan in Odessa und später in Donezk spielte, begann Maslow an der taktischen Ausrichtung Dynamos zu tüfteln. Die zu dieser Zeit gängigen 3-2-2-3- und 4-2-4-Systeme erschienen ihm zu offensiv, Maslow zog die Flügelstürmer zurück und formte ein flaches Vierer-Mittelfeld. Er war wohl der ersten Trainer, der im 4-4-2-System spielen ließ - und der somit die Formation erfand, die zur jahrzehntelangen Standardausrichtung werden sollte.

Gleichzeitig revolutionierte er auch das Deckungsverhalten seiner Mannschaft: Raum statt Mann. "Manndeckung erniedrigt, beleidigt und unterdrückt Spieler", soll er mal gesagt haben. Stattdessen schoben die beiden neu kreierten Viererketten von links nach rechts und rechts nach links. Vorne liefen die beiden Stürmer an, es waren Frühformen des Pressings.

"Fußball ist wie ein Flugzeug", erklärte Maslow. "Wenn sich die Geschwindigkeit erhöht, erhöht sich der Widerstand und deshalb muss der Kopf stromlinienförmiger werden."

Wiktor Maslow: Der Opa wird weinend zurückgelassen

Maslows Flugzeug hob bald ab, dreimal in Folge gewann Dynamo in den späten 1960er Jahren den sowjetischen Meistertitel. "Wenn man einen einzigen Mann als Vater des modernen Fußballs bezeichnen wollte, dann wäre das Maslow", schrieb Taktik-Experte Jonathan Wilson in seinem Buch "Inverting the Pyramid".

Maslows Spieler und Mitarbeiter schätzten ihren Trainer auch menschlich, denn er bezog sie in seine Überlegungen mit ein. An den Abenden vor Spielen veranstaltete er stets Taktikbesprechungen. "Opa", riefen ihn seine Spieler gerne, und sein Co-Trainer Mykhaylo Koman lobte Maslows "kolossale Weisheit, Menschlichkeit und Güte".

Nachdem Dynamo aber zweimal in Folge den Meistertitel verpasst hatte, wurde Maslow entlassen. Sein letztes Spiel war eine 0:1-Niederlage bei ZSKA Moskau. Danach, so erzählt man es sich zumindest, wurde er einfach an einer U-Bahn-Station abgesetzt und weinend zurückgelassen, während die Mannschaft trainerlos nach Kiew flog. Maslows Nachfolger Alexander Sevidow schaffte die taktischen Neuerungen einfach wieder ab.

Walerij Lobanowskyj sucht Beweise

Lobanowskyj hatte seine aktive Karriere in der Zwischenzeit beendet und seine neue gestartet, er trainierte mittlerweile Dnipro Dnipropetrowsk.

Aus der zweiten Liga führte er den Klub bis in die obere Tabellenhälfte der ersten. Gleichzeitig entwickelte Lobanowskyj Kontakte zum Polytechnischen Institut von Kiew, dem Zentrum der sowjetischen Computer-Industrie. Der technische Fortschritt begeisterte ihn und während seiner Zeit als Trainer von Dnipropetrowsk begann er, fußballrelevante Datensätze in Computer einzuspeisen und damit zu experimentieren.

1973 musste Sevidow Dynamo verlassen - und Lobanowskyj übernahm das Traineramt bei seinem Ex-Klub. Sofort intensivierte er die Kooperation mit der Hochschule und arbeitete vor allem mit dem fußballinteressierten Biologie-Professor Anatoly Zelentsow zusammen, gemeinsam strukturierten sie die Nutzung von Datensätzen. Sie ermittelten Zweikampfquoten, die Anzahl an kurzen sowie langen Pässen und ihre Präzision.

"Maslow hat nach seinem Gefühl gearbeitet", schrieb Wilson, "aber Lobanowskyj wollte Beweise." Er bekam sie und hängte sie ausgedruckt an die Kabinenwände. Die Zeit der Ausreden war vorbei.

Hilfe von Videospielen und der Leichtathletik

Auch bei der Trainingssteuerung vertrauten Lobanowskyj und Zelentsow auf statistische Auswertungen der neuartigen Computer. Lange vor der Erfindung von Laktattests führten sie Blutanalysen durch und um die Reaktionsfähigkeit der Spieler zu überprüfen, mussten diese Frühformen von Videospielen absolvieren.

Im Bereich des Fitnesstrainings ließen sie sich von anderen Sportarten wie der Leichtathletik inspirieren, experimentierten etwa mit Intervall-Training. Phasen mit sehr hoher Intensität wechselte sie mit solchen sehr niedriger ab. Ihre Ideen hielten Lobanowskyj und Zelentsow in einem Buch fest: "Die methodologische Basis der Entwicklung von Trainingsmodellen."

Sie gingen weiter und weiter, begannen bald vermeintlich ideale Auswechselzeiten für Spieler zu errechnen. Zelentsow erklärte irgendwann: "Wer im Spiel nicht mehr als 18 Prozent Fehler begeht, ist unschlagbar." Die SZ bezeichnete ihn später als "Mastermind und Frankenstein des ukrainischen Fußballs".

Der Erfolg gab dem Duo Recht, gleich in ihrer ersten Saison holten sie das Double, in der zweiten den Europapokal der Pokalsieger.

Lobanowskyj als Dynamo-Trainer: Rasantes Spiel, träger Trainer

Taktisch orientierte sich Lobanowskyj an seinem Vor-Vorgänger Maslow. Er vertraute auf dessen 4-4-2-System, die Raumdeckung und das Verschieben. Darauf aufbauend, entwickelte er weitere Manöver: Ähnlich wie der niederländische Taktik-Pionier Rinus Michels bei Ajax Amsterdam experimentierte Lobanowskyj mit der Abseitsfalle und hielt seine Spieler dazu an, ihre Positionen auf dem Platz fließend zu tauschen. Außenverteidiger überlappten, Stürmer ließen sich fallen.

Angreifer Oleh Blochin veredelte das System: schnell, immer anspielbar und gut im Dribbling. In wettbewerbsübergreifend 432 Spielen für Dynamo erzielte Blochin 211 Tore, hatte aber auch einen großen Anteil am Defensivverhalten seiner Mannschaft. Dynamo strebte Ballgewinne tief in der gegnerischen Hälfte an und schaltete dann rasant um.

So rasant aber seine Mannschaft spielte, so träge wirkte Lobanowskyj stets auf der Bank. Immer und immer weiter zermalmte er dort seinen Kaugummi und sah seiner Mannschaft stoisch beim Siegen zu. Insgesamt acht Meistertitel, sechs nationale Pokale und zwei Europapokale der Pokalsieger (1975 und 1986) gewann er in seinen drei Amtszeiten als Dynamo-Trainer zwischen 1973 und 2002 (unterbrochen wurden sie von Engagements als Nationaltrainer der Sowjetunion, der Vereinigten Arabischen Emiraten und von Kuwait).

In Erinnerung blieb Lobanowskyj aber weniger wegen seiner Erfolge als vielmehr wegen seiner Pionierarbeit. "Sein Einfluss auf mich war so groß, dass ich noch heute oft von ihm träume", sagte etwa sein einstiger Stürmer Andrij Schewtschenko später.

Lobanowskyjs Einfluss gab es aber nur wegen Maslow, denn er schuf die Grundlage - nachdem er den Spieler Lobanowskyj aussortiert hatte.

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