Julian Nagelsmann im großen SPOX-Interview 2015: "Tim Wiese taufte mich Baby-Mourinho"

Von Daniel Reimann / Florian Schimak
Julian Nagelsmann wird im Sommer 2021 Trainer beim FC Bayern München.
© IMAGO / Martin Hoffmann

Julian Nagelsmann ist mittlerweile in aller Munde, bald Trainer des FC Bayern München und dadurch der teuerste Coach auf der Welt. 2015 trainierte er noch die U19 der TSG 1899 Hoffenheim. Nagelsmann gab SPOX damals eines seiner ersten deutschlandweiten Interviews.

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Dieser Artikel erschien erstmals am 9. Februar 2015.

Darin sprach im Alter von 27 Jahren über sein dramatisches Karriereende, Peinlichkeiten beim Erstliga-Debüt und Pep Guardiolas vermeintliche Profilneurose.

Herr Nagelsmann, Sie spielten einst im Nachwuchs von 1860 München und des FC Augsburg. Haben Sie sich damals gute Chancen auf eine Profikarriere ausgerechnet?

Julian Nagelsmann: Grundsätzlich schon, aber ich war bereits oft verletzt. Ich hatte drei Mal einen Bruch am gleichen Wirbel. Das kam daher, dass ich nur vier Lendenwirbel habe. Das ist nur bei ganz wenigen Menschen der Fall. Der vierte Wirbel ist deshalb stark belastet, es kann sich ein Ödem bilden und einreißen. Das war schon ein Handicap.

Daher der Wechsel von den Löwen zum FCA?

Nagelsmann: Ja. Ich hatte schon mit den Profis trainiert, aber irgendwann wollte ich von 1860 Abstand gewinnen. Dort war mein Bild von all den Verletzungen sehr geprägt. Also bin ich nach Augsburg gegangen, doch da ging es für mich sehr schnell bergab. Nach einer Knie-Operation stellte der Arzt einen Knorpelschaden fest. Daraufhin habe ich mich entschieden, meine aktive Zeit zu beenden.

Die Diagnose Meniskusriss ist eigentlich nicht zwangsläufig mit einem Karriereende verbunden.

Nagelsmann: Es lief leider sehr ungünstig. Die Verletzung wurde nicht optimal operiert. In den vier Monaten Reha hatte ich immer noch starke Schmerzen. Daher haben wir noch eine Arthroskopie vorgenommen. Dabei wurde festgestellt, dass am Hinterhorn noch immer etwas kaputt war. Es gelangte Entzündungsflüssigkeit ins Gelenk und hat den Knorpel aufgeweicht. Ich hatte einen Knorpelschaden dritten Grades, das haben einige Profis heute auch. Damit kann man schon spielen, wenn auch nicht schmerzfrei. Aber für mich hätte es sich wohl nicht gelohnt. Sonst hätte ich mit 40 ein künstliches Knie benötigt.

Sie haben in Augsburg Ihr Fachabitur gemacht und noch während der Karriere ein BWL-Studium begonnen. War das schon der Plan B zur Profikarriere?

Nagelsmann: Gewissermaßen. Während des Studiums habe ich jedoch schnell gemerkt, dass das nicht unbedingt meine Welt ist. Verantwortungsbereiche, in denen man viel über die Zukunft von Familien entscheiden und eventuell Leute entlassen muss - das war nicht meins.

Haben Sie als Trainer nicht auch eine gewaltige Verantwortung für die Zukunft von Menschen?

Nagelsmann: Das schon, aber es ist eine andere Dimension. Der ausschlaggebende Punkt war eine Hausarbeit. Deren zentrale Frage war: Was macht man als Leiter eines 5000 Mann starken Unternehmens, wenn es nicht mehr läuft? Unser Dozent ließ alle durchfallen, weil niemand das geschrieben hat, was er verlangte: 50 Prozent der Belegschaft zu entlassen. Es ist etwas anderes, wenn ich ein oder zwei Spielern mitteilen muss, in diesem Verein keine Zukunft mehr zu besitzen. Schmeißt man einen 50-jährigen Familienvater raus, hat dies eine ganz andere existenzielle Dimension.

Sie sagten einmal, Sie hatten nach Ihrer Verletzung die Schnauze voll vom Fußball. Dennoch sind Sie relativ schnell im Trainergeschäft gelandet. Wie passt das zusammen?

Nagelsmann: Es stimmt, ich wollte mit Fußball erst einmal gar nichts mehr zu tun haben. Aber ich hatte in Augsburg noch einen gültigen Vertrag. Auch deshalb kam mein damaliger Trainer Thomas Tuchel auf mich zu. Er meinte nicht: Du wirst jetzt Trainer. Es war vielmehr eine pragmatische Entscheidung. Da mich der FCA weiterhin bezahlte, habe ich für Tuchel Gegner gesichtet. Die Alternative wäre eine Vertragsauflösung gewesen und das wollte ich nicht.

Tuchel hat Ihnen also den Weg als Trainer geebnet?

Nagelsmann: Er war nicht mein Ziehvater, auch wenn ihn viele als solchen bezeichnen. Dafür war unser Verhältnis zu pragmatisch. Ich bin ihm natürlich sehr dankbar dafür, dass er mich sozusagen auf die Idee brachte, Trainer zu werden. Durch ihn bekam ich die Chance, Assistent bei meinem alten Jugendtrainer Alexander Schmidt in der U17 von 1860 zu werden. In Augsburg wurde mir der Trainerposten in der U12 angeboten, aber ich hatte es auf den Leistungsbereich abgesehen.

Julian Nagelsmann wird neuer Trainer des FC Bayern München.
© imago images
Julian Nagelsmann wird neuer Trainer des FC Bayern München.

Nach der Zeit bei 1860 schlossen Sie sich 1899 Hoffenheim an und wurden Co-Trainer der U17. Dafür mussten Sie rund 350 Kilometer hinter sich zu lassen...

Nagelsmann: Es war schon ein Wagnis. Mir wurde allerdings recht früh in Aussicht gestellt, dass ich eines Tages eine Cheftrainer-Position einnehmen könnte - was dann auch relativ schnell passierte.

Erst wurden Sie U16-Chefcoach, im Winter 2012/2013 nach der Entlassung von Markus Babbel dann Assistent unter Frank Kramer bei den Profis. Das ging schon fast zu schnell, oder?

Nagelsmann: Als Frank Kramer anrief, musste ich lachen. Ich dachte nicht, dass er das wirklich ernst meint. Es war auf jeden Fall sehr skurril.

Auf einmal mussten Sie mit Mitte 20 gestandenen Nationalspielern erklären, wie der Hase zu laufen hat.

Nagelsmann: Ich erinnere mich noch an die erste Besprechung mit der Mannschaft. Da war ich schon nervös, als Tim Wiese und Co. vor mir standen, all diese erfahrenen Profis. Ich merkte aber auch: Die Spieler wollten mich überprüfen und herausfinden, ob ich nur die Hütchen aufstelle oder auch einen Plan habe. Sie sahen aber recht zügig, dass ich ihnen behilflich sein kann. Ich hatte nicht erwartet, dass daraus ein solch respektvolles Verhältnis entsteht.

Wie gingen die Spieler mit der Tatsache um, dass Sie selbst nie Profifußball spielten?

Nagelsmann: Viele empfanden gerade das als angenehm. Sie fanden es gut, nicht immer dasselbe von einem Ex-Profi zu hören, der schon seit 30 Jahren Trainer ist. Für die Spieler war dies neuer Input, sie waren aufgeschlossen.

Aber den einen oder anderen scherzhaften Spruch wird's schon gegeben haben, oder?

Nagelsmann: Klar. Tim Wiese hat mich beispielsweise "Baby-Mourinho" getauft. Das blieb dann auch bis zum Schluss. (lacht)

Wie lief es ab, wenn Sie die sachliche Kommunikationsebene verlassen und lauter werden mussten?

Nagelsmann: Der eine oder andere Spieler hat in den ersten Einheiten taktische Fehler gemacht, so dass ich dann schon deutlich klarmachen musste, welche taktischen Vorstellungen wir hatten. Das war auch mein persönliches Ziel: Ein bestimmtes Auftreten, um den Spielern meine Ideen mitzugeben. Laute Zampano-Auftritte, bei denen ich 20 Spieler zusammenfalte, nur um mir Respekt zu verschaffen und mein junges Alter zu kaschieren, wären aber lächerlich gewesen.

Damals waren Sie 25 Jahre alt. Welche Auswirkungen hatte das Co-Trainer-Dasein eigentlich auf Ihr Privatleben?

Nagelsmann: Anfangs war die Resonanz unfassbar. Bei mir haben sich Leute gemeldet, die ich Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Es gab zwar auch Stimmen, wo es hieß: Was will der da mit 25? (lacht). Die meisten Rückmeldungen waren aber sehr positiv. Nach manchen Spielen hatte ich um die 150 WhatsApp-Nachrichten auf dem Handy.

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