Wie die Wippe auf dem Spielplatz

Mit 21 Treffern stellte Borussia Dortmund einen neuen Torrekord in der CL-Gruppenphase auf
© getty

Borussia Dortmund holte in einem rasanten Spiel gegen Real Madrid das 2:2-Unentschieden, das den Gruppensieg sicherte. Die 90 Minuten im Bernabeu stehen exemplarische für die ganze Spielzeit des BVB - konstant inkonstant.

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"90 Minuten im Bernabeu sind sehr lange", sagte einmal - es muss in den 1980er Jahren gewesen sein - Real Madrids damaliger Spieler Juanito. Mittlerweile geht Juanito als Vereinslegende durch, unter anderem dank 284 Spielen und 85 Toren im königlich-weißen Trikot, aber auch dank dieses Satzes, der geblieben ist. Der tatsächliche Wahrheitsgehalt ist zwar mindestens fraglich, aber der Satz könnte das Gefühl, das gegnerische Spieler überkommt, wenn sie im von Zäunen in zwei Gänge getrennten Spielertunnel des Santiago Bernabeu auf den Einlauf warten, besser nicht beschreiben.

Für Borussia Dortmund waren die 90 Minuten an diesem Dezemberabend im Bernabeu aber weder zu lang noch zu kurz. Sie waren der perfekte zeitliche Rahmen. Zwei Minuten bevor sie vorbei waren und somit gerade noch rechtzeitig erzielte Marco Reus den so wichtigen Ausgleich zum 2:2. Er sicherte dem BVB den Gruppensieg und somit einen vermeintlich leichteren Gegner im anstehenden Achtelfinale.

Wie man nun weiß, kann ein Spiel samt dazugehöriger Stimmung im Bernabeu aber nicht nur "sehr lange" und "ein bisschen surreal" (Tuchel) sein, sondern auch sehr repräsentativ. Exakt so gesagt hat das niemand, aber immerhin sinngemäß. "Wir haben in diesen 90 Minuten eine Entwicklung genommen", sagte BVB-Trainer Thomas Tuchel nach dem Spiel. So euphorisch und strahlend führte er das aus, wie man den sonst eher grübelnd und fast kauzig wirkenden Tuchel selten Dinge ausführen hört und sieht. Denn in diesem Fall war es letztlich eine Entwicklung zum Positiven.

Schwankend wie die Wippe

Diese Entwicklung, die der BVB in den 90 Bernabeu-Minuten durchlief, steht jedenfalls durchaus repräsentativ für die ganz Saison der Borussia. Im Sommer wurde der große Umbruch vollzogen, seitdem geht es mal auf und mal ab und dann wieder auf. Sieg gegen den FC Bayern München, Niederlage gegen Eintracht Frankfurt, Unentschieden gegen Real Madrid - wirklich zu fassen ist dieses neue Dortmund noch nicht. Nun ist eben mal wieder ein Hoch der Entwicklung eingetreten.

Über die ganze Saison gesehen ist der BVB schwankend wie die Wippe auf dem Kinderspielplatz und er war es auch beim Auswärtsspiel in Madrid - starker Beginn, starke Phasen vor und nach der Halbzeit, starke Phase am Schluss und dazwischen immer wieder Durchhänger.

Ein bisschen was von allem

Hörte man Marco Reus nach dem Spiel so beiläufig zu, wusste man nicht, was sich da zuvor so auf dem Platz abgespielt hat. Er sprach von "guten Laufwegen" gleichermaßen wie von "zerfahrenen Aktionen" und "großen Chancen" Reals, die man zugelassen hätte. Bei seinem Trainer hörte sich die Verbal-Analyse nicht anders an: "Sehr guter Beginn." "Viele einfache Fehler." "Falsche Entscheidungen." "Super Ende." Ein bisschen was von allem.

Stets da war aber der Glaube an das Unentschieden, das eigentlich ein Sieg war. Und auch der Wille, diesen Glauben Realität werden zu lassen. "Wir haben uns nicht hängen lassen, wir haben uns in das Spiel reingefressen, wir haben unser Ding durchgezogen", sagte Tuchel im Anschluss. Ähnliches hätte er auch damals, Ende September sagen können. Auch beim Heimspiel gegen Real lag Dortmund zurück, bewies Moral und kam spät (87.) zum 2:2-Ausgleich.

Das 2:2 von damals war der Grundstein des Gruppensieges, das 2:2 vom Mittwoch die Finalisierung. Dazwischen lag unter anderem das wilde 8:4 gegen Legia Warschau. Dieses Torfestival hatte ganz entscheidenden Anteil am Champions-League-Gruppenphasen-Torrekord, den der BVB aufstellte: 21 Treffer in sechs Partien - mehr schaffte kein Verein vor der Borussia.

Experimentierfähig und talentiert

Der wichtigste dieser 21 Treffer war natürlich der 21. Der, der den Gruppensieg besiegelte. Pierre-Emerick Aubameyang sprintete rechts in die Tiefe, legte den Ball in die Mitte, wo der eingewechselte Marco Reus nur mehr einschieben musste. Großherzig sprach der Schütze dem Vorlagengeber im Anschluss "99 Prozent des Treffers" zu.

Der eigentliche Stürmer Aubameyang kommt über den Flügel und der eigentliche Flügelstürmer Reus schließt in Torjäger-Manier ab - auch diese Aktion steht gewissermaßen exemplarisch. Exemplarisch für die Flexibilität, durch die der BVB beeindruckt. Unter Beweis gestellt wurde sie auch von Ousmane Dembele. Der Franzose agierte in gänzlich ungewohnter Position zentral hinter der Spitze und wusste dort zu gefallen. Tuchel experimentiert gerne und kann das mit seiner talentierten Mannschaft auch tun.

Die Dortmunder Mannschaft ist aber nicht nur eine experimentierfähige und talentierte, sondern auch eine, aus der Tuchel wohl nicht wirklich schlau wird. Mal muss er sie heftig kritisieren wie nach der Niederlage gegen Frankfurt, mal kann er selbst gar nicht fassen, was sie zu leisten im Stande ist wie nach dem 2:2 gegen Real. "Top! Absolut top! Das ist alles andere als selbstverständlich", sagte Tuchel nach dem Abpfiff und war besonders stolz darauf, dass sich das Remis "verdient anfühlte." Roman Weidenfeller sah das überraschenderweise nicht anders und Real-Trainer Zinedine Zidane durchaus etwas überraschend auch nicht: "Dortmund hat diesen ersten Platz verdient."

Ein bemerkenswerter Satz des Trainers des Titelverteidigers. Den treffendsten des Abends lieferte aber sein Gegenüber. "Spiele von Borussia Dortmund sind etwas ganz Tolles, aber auch etwas sehr Nervenaufreibendes", sagte Tuchel nach 90 sehr langen Minuten im Bernabeu. Für Real waren sie zu lange, für Dortmund genau richtig. So hatte das Juanito einst sicherlich nicht gemeint.

Real Madrid - Borussia Dortmund: Die Statistik zum Spiel

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