Der FC Bayern des Abstiegskampfes

Markus Gisdol hat den Hamburger SV zum Klassenerhalt geführt
© Getty

Der Hamburger SV hat in einem emotionalen Schlussakkord am letzten Spieltag gegen den VfL Wolfsburg erneut den Bundesliga-Klassenerhalt geschafft. Dass der HSV sich die dritte Relegation innerhalb von vier Jahren erspart und auch in der 55. Saison Teil des Oberhauses sein wird, war ein Kraftakt des ganzen Vereins und seines Umfelds. Der Nimbus der Unabsteigbarkeit nimmt unheimliche Züge an.

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In der 78. Minute greift Kult-Stadionsprecher Lotto King Karl im Volksparkstadion zum Mikrofon. Er verkündet die Zuschauerzahl des letzten Heimspiels der Saison: 57.000, ausverkauft. Logisch! Das selbst erkämpfte Endspiel des Hamburger SV gegen den VfL Wolfsburg um den direkten Klassenerhalt wollte niemand verpassen.

Dann ruft er die entscheidenden Worte ins Mikro: "Jetzt kommen die lautesten zehn Minuten der Saison!" Und die Zuschauer gehorchen. "Niemals zweite Liga", hallt es ohrenbetäubend laut durch das weite Rund.

Der HSV hat alles auf die Schlussphase ankommen lassen. Die Schlussphase der Saison und die Schlussphase des letzten Spiels.

"Nach dem zehnten Spieltag waren wir tot, hatten nur zwei Punkte auf dem Konto. Das hat noch keiner geschafft. Wir aber haben uns zusammengerauft und wollten die Geschichtsbücher neu schreiben. Das haben wir geschafft", resümierte Trainer Markus Gisdol nach dem geglückten Husarenstück.

HSV war mehrmals weg vom Fenster

Tatsächlich war der HSV im Laufe der 54. Bundesliga-Saison gleich mehrmals weg vom Fenster. Kaum noch jemand hatte die Hanseaten nach dem historisch schwachen Start noch auf der Rechnung.

Oder nach dem verheerenden Auftritt beim 0:8 in München Ende Februar.

Oder als der HSV - eigentlich zu diesem Zeitpunkt mit vier Punkten Vorsprung auf den Relegationsplatz - ausgerechnet beim Nordderby gegen Werder Bremen Mitte April in eine erneute Ergebniskrise schlitterte und drei Spiele in Folge verlor.

Oder am vergangenen Samstag, als Hamburg wegen eines 0:1-Rückstands auf Schalke in der 91. Minute quasi sicher als Relegant feststand. Bis zu Pierre-Michel Lasoggas Treffer zum Ausgleich.

Heimstärke in der entscheidenden Saisonphase

Doch irgendwie hielt der Bundesliga-Dino seine Chancen am Leben und rettete sich ins Endspiel gegen den VfL Wolfsburg mit dem Heimvorteil auf seiner Seite. Dieser war speziell in der Crunchtime der Saison ein echtes Plus: Acht der letzten neun Siege fuhr Hamburg im Volkspark ein.

Auch gegen Wolfsburg setzten die Hamburger alles auf die Karte Atmosphäre. Vor dem Spiel forderte der Klub die Fans zum euphorischen Empfang des Mannschaftsbusses und zum Fahnentag auf. Gemeinsam, so war die Message, ist das Unmögliche möglich.

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Es war der große Trumpf des Dinos - und irgendwie auch der einzige, denn vor allem die erste halbe Stunde zeigte, dass der HSV die Partie nicht mit spielerischen Mitteln gewinnen würde. Die Hausherren wirkten nervös, hatten große Probleme in der Spielauslösung, waren nicht griffig in den Zweikämpfen und schossen bis zum Ausgleich durch Filip Kostic kein einziges Mal aufs gegnerische Tor.

Last-Minute-Qualitäten wie der FC Bayern

Doch ab dem Moment des Ausgleichs lief alles auf eben diese dramatische Schlussphase hinaus. Auf die von Lotto King Karl geforderten "lautesten zehn Minuten der Saison". Auf die mittlerweile unheimliche Fähigkeit des HSV, in diesen dramatisch engen Momenten in der Schlussphase doch noch alles zu retten, sei es zur Not in der Nachspielzeit. Das gelang in den Jahren der Relegation, das gelang in der Vorwoche auf Schalke und nun auch gegen Wolfsburg.

Die Last-Minute-Qualitäten machen den Hamburger SV zum "FC Bayern des Abstiegskampfes".

Nur 113 Sekunden nach seiner Einwechslung erzielte Gian-Luca Waldschmidt das goldene Tor. "Ich habe noch kein Bundesligator geschossen. Klar stellt man sich vor, was das für ein Gefühl sein muss. Dass es genau heute passiert und es das Tor zum Klassenerhalt ist, das geht nicht besser", frohlockte der 21-Jährige.

Fans stürmen den Rasen

Wenige Minuten später brachen endgültig alle Dämme, als klar war: Der HSV hält die Klasse und schickt stattdessen den VfL Wolfsburg in die Relegation. Die Fans stürmten den Rasen des Volksparkstadions und starteten eine große Party.

"Das ist unglaublich. Wir haben das geschafft, was keiner für möglich gehalten hat. Keiner hätte mehr einen Pfifferling auf uns gesetzt", jubelte Mergim Mavraj.

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Gisdol stellte den Faktor Gemeinschaft noch einmal explizit heraus: "Ich möchte Danke sagen für den fantastischen Zusammenhalt in unserem Klub, mit unseren Fans. Es fällt mir schwer, das in Worte zu fassen. Ich bin einfach unglaublich dankbar und froh, dass wir heute den Sack zumachen konnten."

Müller: "Es schaut danach aus, dass wir unabsteigbar sind"

Die strikte Weigerung des HSV, in die zweite Bundesliga abzusteigen, hat mittlerweile fast schon etwas von einem kosmischen Plan. Oder wie Nicolai Müller es ausdrückte: "Es schaut danach aus, dass wir unabsteigbar sind."

Mit einem selbstironischen Tweet kurz nach Spielende feierte auch die Social-Media-Abteilung des Ligadinos den Klassenerhalt auf seine eigene Weise: "Tick Tack, wir gehen euch weiter auf den Sack", garniert mit dem Hashtag "There will be Haters". Diese wird es tatsächlich geben. Bedenkenträger, die dem Hamburger SV den Abstieg gönnten, weil sie allem Anschein nach seit Jahren nicht aus ihren Fehlern lernten und trotz großer Ziele und eines auf dem Papier starken Kaders immer wieder unten reinrutschten.

Doch die starke Aufholjagd nach dem verpatzten Start (25 Punkte und Platz sieben in der Rückrundentabelle) und nicht zuletzt der dramatische Schlussakkord der Saison haben gezeigt: Dieser Hamburger SV gehört ins Oberhaus. Mit seiner Tradition, mit seiner Leidenschaft.

Mindestens ein Jahr tickt die Bundesliga-Uhr also noch im Hamburger Volksparkstadion. Und der Gesang der Fans mit den Rauten-Fahnen hallt noch weiter durch die deutschen Stadien: "Niemals zweite Liga"...

Hamburg - Wolfsburg: Daten zum Spiel

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