Fußballerischer und menschlicher Ersthelfer

Gegen seinen Ex-Klub Borussia Mönchengladbach erzielte Marco Reus das zwischenzeitliche 1:0
© getty

In den drei Spielen seit seinem Comeback erzielte Marco Reus drei Treffer. Gefordert war er dabei als Vize-Kapitän einer traumatisierten Dortmunder Mannschaft aber nicht nur als Fußballer, sondern auch als Mensch. Beim DFB-Pokal-Halbfinale in München sucht Reus nach der Ausfahrt aus dem Tunnel, einen Schritt dazu machte er beim Auswärtssieg in Mönchengladbach, wo er für seinen Auftritt die Note 2,5 bekam.

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Klickt man auf die Homepage von Marco Reus, dann sieht man erst einmal Marco Reus - und zwar als computeranimierte 3D-Figur, die mit verschränkten Armen weiße Schuhe, eine Jeans, ein hochgekrempeltes Karohemd sowie eine trendige schwarze Uhr trägt und kerngesund wirkt. Mit der Maus kann der Besucher die Figur drehen und wenden wie er will und von allen Seiten anschauen.

In Marco Reus hineinschauen kann der Besucher aber nicht und das ist wahrscheinlich auch ganz gut so. Innerhalb der schicken Hülle steckt nämlich ein 27-jähriger und durch etliche Verletzungen geschundener Körper.

Der Homepage-Besucher würde ehemals entzündete Schambeine, bereits gezerrte eingerissene oder gar gerissene Bänder (in Knie und Sprunggelenk) und Muskeln (in Bauch, Oberschenkel, Adduktorenbereich sowie womöglich auch welchen, die noch gar nicht entdeckt wurden), geprellte Knochen, lädierte Fersen sowie angeknackste Zehen, Fersen und auch Mittelfüße begutachten können.

Für die frischeste Blessur müsste der Besucher den computeranimierten Marco Reus so drehen, dass er die Hinterseite des linken Oberschenkels sehen kann. Dort riss sich Reus am 4. März beim 6:2-Sieg gegen Bayer Leverkusen eine Muskelfaser und musste deshalb eineinhalb Monate lang pausieren.

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Verpasste Tunnelausfahrten

Es war die jüngste Verletzungs-Episode einer Karriere, die einer langen Tunnelfahrt mit der Suche nach einer Ausfahrt, wo sein langersehnter erster großer Pokal wartet, gleicht. Immer wieder rappelt sich Reus auf, glaubt Licht am Ende des Tunnels zu sehen, ehe sich das Licht als neuer heranrauschender Zug entpuppt, der ihn wieder in die Dunkelheit wirft und erneut verletzt zurücklässt.

Reus steht aber Mal für Mal auf und arbeitet sich wieder und wieder Richtung Licht. Erstaunlich ist dabei, dass Reus gefühlt immer stärker und wichtiger zurückkommt, als er es zuvor ohnehin schon war.

"Wir vermissen ihn unendlich und brauchen ihn", sagte sein Trainer Thomas Tuchel jüngst vor dem Bundesligaspiel gegen Eintracht Frankfurt, in dem Reus nach eineinhalbmonatiger Verletzungspause vor seiner neuerlichen Rückkehr stand.

Reus feierte dann auch tatsächlich sein Comeback. Er kehrte aber - anders als nach seinen zehn bis 40 vorherigen Verletzungspausen - in eine Mannschaft zurück, die nicht mehr die war, die sie zuvor mal war. Denn zwischen Reus' Verletzung und seinem Comeback lag der 11. April, der bei etlichen Dortmunder Spielern seelische Wunden hinterlassen hat. Der lädierte Reus saß dagegen nicht mit seiner Mannschaft im Bus, der zum Ziel eines mörderischen Attentats wurde.

Menschlicher Ersthelfer

War Reus in seiner bisher fünfjährigen Karriere als BVB-Spieler verletzt, dann wurde er von Trainern und Teamkollegen stets wegen seiner immensen fußballerischen Qualitäten vermisst und seine Rückkehr deshalb innig herbeigesehnt. Diesmal war es aber anders. Diesmal wurde Reus mehr als je zuvor nicht nur als Fußballer, sondern auch als Mensch herbeigesehnt.

Er erlebte das Bus-Attentat lediglich aus der Distanz und ist deshalb womöglich das am wenigsten traumatisierte Element einer traumatisierten Mannschaft. Als Vize-Kapitän und mittlerweile auch in einem entsprechend reifen Alter angekommen, fällt Reus eine entscheidende Rolle bei der Heilung des Teams von innen heraus zu.

Reus weiß das und sieht sich deshalb nicht nur fußballerisch, sondern auch menschlich in der Verantwortung. Im Nachgang des Attentats bat er jüngeren Spielern bereits Gespräche und Hilfe an, erzählte er, nachdem er fußballerische Ersthilfe geleistet hatte.

Fußballerischer Ersthelfer

Gegen Frankfurt am vorangegangenen Wochenende feierte Reus also sein Comeback, stand direkt in der Startelf und streichelte den Ball zum Einstand nach drei Minuten mit der Ferse ins Tor. Reus wirbelte auf seinem linken Flügel und belebte das Spiel seiner Mannschaft. Auch beim darauffolgenden so bitteren Champions-League-Aus beim AS Monaco traf Reus und dann auch gleich beim Bundesligaspiel in Mönchengladbach. Wieder machte er das 1:0.

"Grundsätzlich versuche ich in der Zeit, in der ich verletzt bin, so hart an mir zu arbeiten, dass ich nicht lange brauche, um wieder bei 100 Prozent zu sein", erklärte Reus nach der Partie. Gefühlt arbeitet er von Verletzungspause zu Verletzungspause härter. Reus beschleunigt mittlerweile nicht nur auf dem Platz rasant, sondern auch im Reha-Zentrum.

"Mich freut es, dass ich so zurückkomme und der Mannschaft helfen kann", sagt Reus. Obwohl er 17 von 30 Bundesligaspielen in dieser Saison verpasst hat, steht Reus bereits bei acht Scorerpunkten (4 Tore, 4 Assists). Außerdem bei etlichen raumgreifenden Läufen und Dribblings und klugen Pässen.

Licht am Ende des Tunnels

All das braucht seine Mannschaft auch in den abschließenden Saisonspielen von ihm, will sie ihre verbliebenen Ziele erreichen. "Wir müssen positiv nach vorne gucken", sagt Reus und man glaubt es ihm. Wem, wenn nicht ihm? "Wir müssen positiv nach vorne gucken und dann ist es natürlich das Ziel, in München ins Pokalfinale einzuziehen."

Was es dafür braucht, sind "Mut und Selbstvertrauen", sagt Reus und lebt diese Charaktereigenschaften vor wie kein Zweiter.

"Das ist nur ein Spiel und da wollen wir etwas reißen", erklärt Reus. Nach einigen Wochen geprägt von persönlicher Dunkelheit und dem Kampf fürs Comeback, ganz tief drinnen im Tunnel, sieht Reus gerade mal wieder in gar nicht allzu großer Entfernung vermeintliches Licht am Ende des Tunnels. Das gleiche gilt für seinen ganzen Verein, der zuletzt Tage der tiefen Dunkelheit durchleben musste.

Zwei Siege noch und Reus reckt mit seinen Dortmundern den ersten wichtigen Titel seiner Karriere in die Luft. Nach drei Vize-Meisterschaften, drei verlorenen DFB-Pokal-Finals und einem verlorenen Champions-League-Finale, nimmt Reus mit unnachgiebiger Ausdauer eben den nächsten Anlauf auf einen Pokal.

Ob des traumatisierenden Attentats zwei Wochen zuvor ist Reus bei diesem Anlauf aber nicht nur als Fußballer gefordert, sondern mehr denn je auch als Mensch.

Marco Reus im Steckbrief

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