"Berlin ist nicht Deutschland"

Pal Dardai wurde im Jahr 1999 zu Ungarns Fußballer des Jahres gewählt
© getty

Vor 20 Jahren ist Pal Dardai als Spieler zu Hertha BSC gekommen. Seit etwas mehr als zwei Jahren arbeitet der Ungar als Trainer bei der Alten Dame. Im Interview spricht Dardai über seine Berlin-Unkenntnis, den ungarischen Lebensstil, sein geringes Stressempfinden und 20 Kinder-Fahrräder vor seiner Haustür.

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SPOX: Herr Dardai, Sie sind im Januar vor 20 Jahren als Spieler von Budapesti VSC aus Ungarn zu Hertha BSC gewechselt. Wie kam das überhaupt zustande?

Pal Dardai: Jürgen Röbers Co-Trainer Bernd Storck kam in die Schweiz zu einem Auswärtsspiel von uns und hat mich gescoutet. Wir haben 1:4 verloren, ich habe aber das Tor geschossen und auch nicht ganz schlecht gespielt. Nach dem Spiel hat Bernd auf mich gewartet, mit seiner Lederjacke und den nach hinten gegelten Haaren. Er hat mich auf Englisch angesprochen und gemeint, dass sie mich weiter beobachten werden.

SPOX: Wie ging's dann weiter?

Dardai: Hertha hat einen Scout geschickt, der danach noch zwei Spiele von mir anschaute. Martin Bader war damals Assistent der Geschäftsführung und ist anschließend nach Ungarn gereist, um mir ein Angebot zu machen. Er meinte, ich könne doch einfach mal drei Tage in Berlin mit trainieren.

SPOX: Also war es gewissermaßen reiner Zufall, dass es sich um Hertha BSC handelte?

Dardai: Im Grunde schon, ja.

SPOX: Wie groß war Ihr Wunsch als Spieler, Ungarn zu verlassen?

Dardai: Es war für uns Spieler grundsätzlich nicht so einfach. Das Schwierigste war erst einmal, aus dem Land raus zu kommen. Doch dann musste man sich sofort beweisen, um überhaupt eine Chance zu bekommen. Ich wollte schon als Kind immer in der Bundesliga spielen. Das war mein Traum.

SPOX: Gab es dafür einen bestimmten Grund oder fanden Sie die Bundesliga einfach besonders attraktiv?

Dardai: Im Kommunismus durften wir nur alle drei Jahre in den Westen reisen. Ab dem Alter von vier Jahren habe ich regelmäßig meine Tante in Rohrbach in der Nähe von Ingolstadt besucht. Mit sieben Jahren bin ich dann mit meinem Vater ins Münchner Olympiastadion gefahren. Es fand kein Spiel statt, deshalb waren auf dem Rasen auch keine Tore aufgestellt. Ich weiß noch, wie ich meinen Vater fragte: Wo sind die Tore, Papa? Er hat mir erklärt, dass sie nur aufgestellt werden, wenn Bayern München und 1860 spielen. Und ab diesem Zeitpunkt wollte ich in Deutschland spielen.

SPOX: Woran erinnern Sie sich, als Sie erstmals bei Hertha zu Besuch waren?

Dardai: Ich habe mir ein Spiel gegen Zwickau angeschaut. 11.000 Zuschauer, Hertha gewinnt 1:0 durch einen Treffer von Axel Kruse. Die Stimmung war aber irgendwie komisch. Manager Carl-Heinz Rühl hat mich anschließend gefragt, ob ich mir das grundsätzlich vorstellen könne. Man wolle hier etwas aufbauen und das Stadion voll kriegen.

SPOX: Sie müssten ja ohne Zögern zugesagt haben, oder?

Dardai: Natürlich. Mich hat vor allem die Attraktivität des Standortes angezogen, denn in meinen Augen braucht jede Hauptstadt einen starken Fußballverein. In all den folgenden Jahren hatte ich dann das große Glück, dass ich mit der Mannschaft und dem Verein wachsen konnte. Es ging in der 2. Liga los, in der Bundesliga weiter und später spielten wir sogar Champions League. Als mein Körper und ich älter wurden, ging es auch mit dem Verein wieder ein bisschen bergab. (lacht)

SPOX: Inzwischen haben Sie die Hälfte ihres Lebens in Berlin verbracht - einer Stadt, die sich in ständigem Wandel befindet und längst eine Metropole von Weltrang geworden ist. Wie wirkte die Stadt auf Sie zu Ihrer Anfangszeit?

Dardai: Ich dachte mir, ich mache es wie viele andere Ausländer auch: Eine Weile bleiben, gutes Geld verdienen und dann wieder ab nach Hause. Mir war dabei nicht klar, dass Berlin nicht irgendeine Stadt in Deutschland ist. In einer anderen Stadt wärst du gerade als Fußballer sicherlich eher gezwungen, auch mal wieder den Standort zu wechseln. Berlin dagegen ist einzigartig: Berlin ist nicht Deutschland, Berlin ist Berlin - wie ein Land im Land. Ich habe schnell gesehen, dass mein Leben hier gut ist, der Verein ist gut, die Trainingsbedingungen sind gut. Wohin hätte ich denn gehen sollen? Alle vier, fünf Jahre wurde unser Kabinentrakt renoviert, das war für mich wie ein Vereinswechsel. (lacht)

SPOX: Gab es damals auch Momente, in denen Sie Berlin den Rücken kehren wollten?

Dardai: Nein. Es mag sich verrückt anhören, aber es war für mich aufgrund unserer engen Familienbande ein größerer Schritt, aus meiner Geburtsstadt Pecs nach Budapest zu wechseln, als von Budapest nach Berlin. Ich wurde hier sehr gut aufgenommen und erfahre bis heute große Wertschätzung, als Trainer im Vergleich zu meiner Zeit als Spieler sogar noch etwas mehr. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich bodenständig geblieben bin. Ich habe die Menschen und die Stadt schnell schätzen gelernt, es ist eine gegenseitige Liebe.

SPOX: Inwiefern kennen Sie sich denn in Berlin auch aus: Gibt es eine Ecke, die Sie gar nicht kennen?

Dardai: Da gibt es viele. Eigentlich viel zu viele. Meine Freunde sagen häufiger zu mir: Du bist doch bescheuert, dass du dir dies und jenes noch nicht angeschaut hast. Ich muss zugeben, ein langweiliger Mensch zu sein. Für mich ist Berlin das Olympiastadion und Charlottenburg, manchmal gehen wir auch am Kudamm ins Kino oder Restaurant. Das ist wie eine optische Täuschung, wenn du in einer solch großen Stadt bist und nur einen gewissen Teil davon gut kennst. Aber es ist trotzdem ein wunderschönes Leben.

SPOX: Sie leben seit 20 Jahren in einer Metropole, wollen aber eigentlich gar nichts von ihrer Betriebsamkeit. Das ist durchaus kurios, finden Sie nicht?

Dardai: Das kann man so sehen. Wenn ich Gäste habe, fahren wir natürlich auch mal zu ein paar der größten Sehenswürdigkeiten. Für mich selbst zählen aber nur das Olympiastadion, das Gelände, der Olympiapark. Mein Leben ist Fußball, ich schaue nur Fußball und mein Haus ist so eingerichtet, dass es für Fußballfanatiker wie uns ideal ist. Noch dazu ist Charlottenburg in etwa so groß wie Pecs. Vielleicht reicht mir diese Größe auch einfach. (lacht)

SPOX: Sie haben unweit des Olympiastadions ein Haus gebaut, darin einen gut bestückten Weinkeller und pflegen akribisch Ihren Rasen im Garten. Sie sagen, Sie leben ein ungarisches Leben in Berlin. Was heißt das genau?

Dardai: Als wir hier herkamen, haben uns alle prognostiziert, dass wir uns schnell an die deutschen Gepflogenheiten gewöhnen und sozusagen eingedeutscht werden. Das ist zwar in gewisser Weise passiert und auch wunderbar. Ich esse aber immer noch die ungarische Salamiwurst Kolbasz oder ungarischen Speck. Früher habe ich mir das alles ins Haus liefern lassen, mittlerweile gibt es in Berlin einen guten Laden mit allerlei Spezialitäten aus Ungarn. Jeden Tag um 12 Uhr brauche ich meine warme Suppe und ein Hauptgericht. In Deutschland wird gefühlt um 10.30 Uhr gefrühstückt, daher haben die meisten um 12 Uhr keinen Hunger. Ich habe dann aber Hunger. (lacht) Im Sommer machen wir draußen in meinem Garten ein Feuer und dann gibt es Gulasch oder ungarische Fischsuppe. Ich lebe genauso weiter wie in meiner Heimat, habe hier aber das Plus, dass es den Profifußball gibt. Der ist in Pecs leider seit Jahren auf dem absteigenden Ast.

SPOX: Wenn Ihnen 1997 jemand gesagt hätte, dass Sie 20 Jahre später immer noch in Berlin sein werden, was hätten Sie demjenigen entgegnet?

Dardai: Dass er ein Trottel ist. (lacht)

SPOX: Wann genau kam der Zeitpunkt, an dem Sie wussten, dass Sie in Berlin bleiben möchten?

Dardai: Das hat sich über die Jahre entwickelt, ein genaues Datum gibt es dafür nicht. Ich habe anfangs zur Miete in der Stadt gewohnt. Dann kamen nach und nach die Kinder. Wir sind dann in eine ruhigere Ecke am Stadtrand gezogen und die Kinder eingeschult worden. Meine Familie und ich haben uns einfach immer sehr wohlgefühlt. Es gibt jetzt auch keine großen Wege mehr in die Heimat wie früher. Wenn du frühzeitig buchst, kostet ein Flug nach Budapest 100 Euro. In 70 Minuten Flugzeit sind wir dort, 90 Autominuten später in Pecs.

SPOX: Was tun Sie, wenn Sie in der Heimat sind?

Dardai: Weihnachten ist immer Stress. Meine Familie ist ziemlich groß und ich versuche, jeden zu sehen. Das kann aber nicht immer klappen und am Ende ist eine Hälfte immer beleidigt. (lacht) Trotzdem ist das so essentiell wichtig für mich, denn dort kommen wie auf Knopfdruck viele Erinnerungen an meine Kindheit hoch. Es sieht dort noch so aus wie früher. Ich besuche meine Oma, gehe in den Weinkeller meines Vaters oder plausche mit dem Arzt, der dort seit Jahrzehnten praktiziert.

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