Neue Fesseln braucht das Team

Carlo Ancelotti hat seinen Stil mit dem FC Bayern noch nicht gefunden
© getty

Der FC Bayern München steckt in der Krise. Das Team offenbart beim Übergang zwischen den Ideen von Pep Guardiola zu Carlo Ancelotti deutliche Probleme. Der Italiener muss mehr Basisarbeit verrichten als gedacht. Auch einige Personalien gehören auf den Prüfstand. Aber noch ist genügend Zeit.

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Es menschelt beim FC Bayern. Die Bilanz nach drei Monaten der Saison 2016/17, der ersten unter Trainer Carlo Ancelotti, liest sich nicht mehr wie die von unfehlbaren Maschinen. 19 Pflichtspiele, 13 Siege, 3 Unentschieden, 3 Niederlagen. Das mag noch immer ganz ordentlich sein, aber ganz ordentlich reicht beim FC Bayern nicht.

Längst ist vergessen, dass Ancelotti einen neuen Trainer-Rekord in München aufstellte, als sein Team die ersten acht Spiele unter seiner Leitung gewann. Denn die Zahlen seit Ende September, seit dieser ersten Niederlage in Madrid bei Atletico, sind alarmierend. 11 Pflichtspiele, 5 Siege, 3 Unentschieden, 3 Niederlagen.

Eine Siegquote von weniger als 50 Prozent ist nicht nur in München ausreichend, um von einer Krise zu sprechen. Es läuft nicht beim Rekordmeister. Wann hat es das zuletzt gegeben? Zwar hat der Klub in den letzten drei Jahren sein hoch gestecktes Ziel, den Gewinn der Champions League, nicht erreicht, aber strukturelle Probleme zu diesem Zeitpunkt gab es nicht.

Was tun mit den neuen Freiheiten?

Ancelotti hat noch in Rostov die volle Verantwortung für die Lage übernommen. Das war auch nicht anders zu erwarten, stellt sich der Italiener doch immer vor seine Spieler. Neben der schützenden Hand wird er in den kommenden Wochen und Monaten aber auch sportliche Methoden einbringen müssen.

Es ist unübersehbar, dass diese van-Gaal-Heynckes-Guardiola-Mannschaft noch nicht so recht weiß, was sie mit dem Ancelotti-Fußball anfangen soll und vor allem, wie sie damit erfolgreich sein soll.

Viel ist über neue Freiheiten gesprochen worden nach den ersten siegreichen Wochen. Die Spieler würden nicht mehr von ihrem anstrengenden Trainer Pep Guardiola mit unnützen Informationen über Darmstadt eingebremst werden. Spielwitz, Kreativität, Zug zum Tor, all das sei jetzt deutlicher sichtbar.

Mehmet Scholl sprach sogar davon, dass Ancelotti die Spieler von den Fessen Guardiolas befreit hätte. Dass diese Feststellungen nach einem 6:0 zum Auftakt gegen ein desolates Werder Bremen verfrüht waren, war schon damals klar.

Wer genauer hinschaute, konnte das auch bei den folgenden Spielen gegen Schalke, Rostov und Ingolstadt sehen. Mittlerweile schlägt es sich auch in den Ergebnissen nieder. Eine Mannschaft, die drei Jahre lang bis ins kleinste Detail auf jeden Gegner vorbereitet wurde, muss erst einen Weg entwickeln, wie sie mit diesen Freiheiten, der neuen Struktur und der veränderten Herangehensweise umgehen will.

Allgemeine Opta-Statistiken des FC Bayern in der Bundesliga 2016/17 und 2015/16

Problem: Kontrolle ohne Ballbesitz

Es ist richtig, dass Ancelotti einen geraderen, einfacheren Fußball spielen will als Guardiola, Ballbesitz ist ihm nicht so wichtig als Kontrollinstrument. Ancelotti ist Italiener, ein Schüler Arrigo Sacchis. Er glaubt, dass man ein Spiel auch ohne Ball kontrollieren kann - mit einer kompakten Defensive und schnellem Umschaltspiel. Ancelotti weiß, wie das geht, das steht außer Frage. Er hat selbst Real Madrid das Verteidigen beigebracht. So gut, dass Zinedine Zidane nur die alten Muster wieder einführen musste, um die Königlichen nach der kurzen Ära Rafael Benitez wieder auf Kurs zu bringen.

Die Übergangsphase in München gestaltet sich allerdings gerade holpriger als gedacht. Und so muss Ancelotti weiter die Vergleiche mit seinem Vorgänger aushalten, auch wenn es reichlich skurril ist, dass Guardiolas schärfste Kritiker jetzt dessen Stil und Arbeitsweise als Grund für die Dominanz der letzten Jahre ausmachen.

Vor ein paar Wochen hieß es noch, es fehle ein Plan B, eine alternative Erfolgsformel, die Bayern seien zu konteranfällig und außerdem stelle Guardiola in den entscheidenden Spielen die falschen Leute auf.

Vergleich Guardiola-Ancelotti hinkt

Gerade jetzt scheint die Zeit aber gekommen, um sich vom Vergleich Ancelotti-Guardiola zu lösen und sich intensiver mit den Problemen des Ancelotti-Fußballs auseinanderzusetzen. Also: Warum läuft es nicht beim FC Bayern? Und nicht: Warum lief es in den letzten Jahren so gut? Guardiola ist weg, er trainiert jetzt Manchester City nach seinen Ideen.

Außerdem wird der Vergleich den unterschiedlichen Phasen der Entwicklung nicht gerecht. Während Guardiola das Team bis zu seiner letzten Saison drei Jahre nach seinen Vorstellungen konnte, steht Ancelotti noch am Anfang. Auch Guardiolas Start war nicht nur von berauschenden Spielen geprägt.

Aber was sich sagen lässt: Guardiola kam seinem Ziel schneller näher und die Mannschaft hatte ihr Erweckungserlebnis (3:1 bei Manchester City) früher. Auf so einen Moment warten die Ancelotti-Bayern noch.

Spezifische Opta-Statistiken des FC Bayern in der Bundesliga 2016/17 und 2015/16

Lahm fordert Zeit für Ancelotti

Womöglich muss Ancelotti den FC Bayern noch mehr nach seinen Ideen spielen lassen. Im Moment wirkt alles wie ein unausgeglichener Mix, hier ein bisschen Ancelotti, dort ein bisschen Guardiola.

Das Spiel in Dortmund dient als Beispiel. Als die Bayern nach dem Rückstand in den Guardiola-Modus schalteten, den Ball mit gutem Positionsspiel, hohem Pressing und schnellen Ballgewinnen beherrschten, kontrollierten sie das Spiel. Die Partie ähnelte dem 0:0 im März, als die Bayern dominierten, aber sich ebenfalls nicht viele Chancen erspielen konnten.

Die erste Viertelstunde agierten sie dieses Mal aber eher passiv, abwartend. Und in dieser Haltung machen die Münchner derzeit noch viel zu viele Fehler. Beim Verschieben, beim Halten der Abstände, beim Führen der Zweikämpfe, überall fehlt etwas in den defensivtaktischen Abläufen. "Was wir nicht so gut können", sagte Philipp Lahm schon vor der Partie beim BVB zu Sky, "ist abwarten."

Man müsse aber auch lernen, "dass auch der Gegner mal den Ball haben darf und wir dann kontern. Den Mix müssen wir reinbekommen. Das dauert. Als Pep damals kam, hat er auch alles umgestellt, das hat auch ein bisschen gebraucht. Ein neuer Trainer, eine neue Idee, das braucht seine Zeit."

Es wird eine Revolution brauchen

Es mag sein, dass sich Ancelotti den Übergang leichter vorgestellt hat. Doch das funktionierende Gebilde beruhte auf anderen Prinzipien. Ancelotti wollte keine Revolution, er wird aber nicht drum herum kommen. Um es mit Scholl zu sagen: Die Mannschaft braucht ein paar neue Fesseln. Der Italiener muss mit seinem Kader defensive Basisarbeit leisten, denn tiefes Verteidigen stand lange Zeit nicht mehr auf dem Trainingsplan.

Zuletzt unter Jupp Heynckes, als die Bayern ebenfalls nicht immer so hoch pressten und auch den Gegner mal mitspielen ließen. Guardiola wollte das nicht. Er sagte einmal: "Wenn es immer nur rauf und runter geht, sind 17 Mannschaften besser als wir." Eine typische Übertreibung des Katalanen, aber ein zentraler Punkt seiner Idee.

Es war die Phase, in der er auch sagte, dass Xabi Alonso sonst in einem Monat tot sei. Der spanische Mittelfeldspieler könnte noch eine entscheidende Personalie werden. In einer Ballbesitzmannschaft ist der ab Freitag 35-Jährige noch immer einer der besten Sechser der Welt. Er kann ein Spiel lenken, er hat das Auge für den kurzen und den langen Pass, das Gefühl für den Raum und eine einmalige Antizipationsfähigkeit. Was er aber nicht mehr kann, ist hin und her rennen, Lücken stopfen, temporeiche Gegner bremsen.

Es kommt nicht überraschend, dass Heynckes mit einer defensiven Doppelsechs Bastian Schweinsteiger/Javi Martinez seine Offensivspieler absicherte. Ancelotti fehlen Martinez und Arturo Vidal aufgrund von Verletzungen. Er wird aber mindestens einen von beiden brauchen, um seiner Mannschaft wieder Balance einzuhauchen.

Bayern-Credo: Am Ende zählen Titel

Im Moment verzweifeln die Bayern gerade an der Frage, wie sie eine Kontermannschaft Ancelottischer Prägung werden sollen, spielen sie doch nur gegen Mannschaften, die partout nicht den Ball haben wollen und keine Räume dafür anbieten - und dagegen selbst die Lücken in Bayerns Reihen bespielen.

Das Gute aus Sicht der Münchner ist, dass noch nicht allzu viel passiert ist. Der Verlust der Tabellenführung in der Bundesliga schmerzt ebenso wie der schon vor dem letzten Gruppenspiel gegen Atletico feststehende zweite Platz in der Champions League, der im Achtelfinale vermutlich einen schwereren Gegner und eine Heim-Auswärts-Konstellation bedeutet.

Aber die Ziele sind noch klar zu erkennen und die Preise werden bekanntlich erst im kommenden Jahr verteilt. Und nichts zählt in München so viel wie Silberware. Das hat nicht zuletzt Pep Guardiola feststellen müssen.

FC Bayern: Termine, Ergebnisse, Kader