Kraft durch Verlust

Lewis Hamilton startet als Verfolger ins Formel-1-Saisonfinale 2016 in Abu Dhabi
© getty

Ins finale Wochenende der Formel-1-Saison 2016 (alle Sessions im LIVETICKER) startet Lewis Hamilton mit zwölf Punkten Rückstand auf Nico Rosberg. Die Vorzeichen haben sich im Vergleich zu den Vorjahren geändert. Doch auch der dreifache Weltmeister hat einen Wandel vollzogen. In Abu Dhabi präsentiert sich ein anderer Lewis Hamilton.

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"Kann mich jemand an die schlechten Rennen erinnern, die ich hatte? Es gab bestimmt welche, aber ich kann mich nicht...", Lewis Hamilton stockte.

Die Journalisten hatten ihn nach seiner schlechtesten Leistung in dieser Saison befragt.

Der Weltmeister spielte nicht mit: "Ernsthaft. Ich will die schlechten gar nicht ausblenden. Aber ich brauche Hilfe bei der Erinnerung."

Psychokrieg der Mercedes-Piloten

Ein bewusstes Zeichen an den Mann, der neben ihm saß? Ein weiterer Kniff im Psychokrieg der Sterne?

Schon auf dem Podium in Brasilien hatte Hamilton angemerkt, für ihn sei der Regenkrimi mit zahlreichen Aquaplaning-Abflügen das einfachste Rennen der letzten Dekade gewesen. Er hatte gewonnen und damit den Rückstand in der Fahrer-WM vor dem Saisonfinale in Abu Dhabi auf 12 Punkte verkürzt.

Hamilton weiß, er braucht Hilfe, um an diesem Wochenende seine dritte Weltmeisterschaft in Folge, die vierte insgesamt einzufahren. Zu viel ist falsch gelaufen. Zu oft ließ ihn die Technik im Stich. Immer wieder wies er im Saisonverlauf darauf hin. Der Höhepunkt, der Malaysia-GP. In Führung liegend ereilte den Titelverteidiger ein kapitaler Motorschaden.

Rosberg vs. Hamilton: Bestes Duell seit 20 Jahren

Die Ausgangslage vor dem möglicherweise finalen Showdown der Mercedes-Dominanz allein darauf zurückzuführen, wäre falsch. Rosberg hat Hamilton über drei Jahre einen engen Kampf geliefert. Um ein ähnlich knappes WM-Duell zweier Fahrer aus demselben Rennstall zu finden, muss man 20 Jahre zurückgehen.

Manchmal wurde der Brite durch die Technik ausgebremst, manchmal ereilten die Probleme den Deutschen - wie in Monza 2015, als Rosberg der Motor platzte, er anschließend mehrere Rennen mit weniger PS absolvieren musste und schließlich den Titel vorzeitig in den USA verspielte.

Selbst beim Grand Prix in Aserbaidschan, als er den Mercedes im Qualifying in die Mauer setzte, Rosberg die 25. Pole Position seiner Karriere und den Rennsieg mit schnellster Rennrunde einfuhr, während Hamilton nur auf Platz 5 ins Ziel kam, sei gar nicht schlecht gewesen. "Baku - das war nicht wirklich mein Fehler. Ich hatte eine unzuverlässige Motoreneinstellung", so Hamilton.

Finden die Spannungen bei Mercedes einen Höhepunkt?

Die immer währenden Spannungen, die Reibereien der Jugendfreunde, sie könnten in Abu Dhabi einen Höhepunkt finden. Ob er sich vorstellen könnte, am Sonntag bewusst so zu fahren, dass Rosberg zurückfällt?

"Ich muss darüber nachdenken", gab Hamilton zu: "So habe ich nicht gedacht. Ich gehe raus und will so weit vorne sein wie möglich." Die Strecke lasse es nicht zu, stellte er fest. Zu viele lange Geraden. "Es wäre nicht leicht und es wäre nicht klug", sagte Hamilton und beantwortete die Frage schließlich mit einem einfachen "nein".

Ungewohnte Einblicke in Lewis Hamiltons Gedanken

Am Donnerstag schien ein anderer Lewis Hamilton sich in Abu Dhabi am Donnerstag den Fragen der Medienvertreter zu stellen. Kein Zuschaustellen von Desinteresse. Keine verknappten Antworten bei kritischen Fragen. Kein Ausweichen. Dafür Offenheit.

Hamilton gab zu, die letzte Woche sei schwer gewesen. Am 15. November 2016 war Dr. Aki Hintsa verstorben. Der langjährige McLaren-Teamarzt, der Ron Dennis von Hamiltons Reife fürs Formel-1-Debüt überzeugt hatte, verlor den Kampf gegen den Bauchkrebs. Noch am Montag nach dem Brasilien-GP hatte Hamilton den Finnen besucht.

Der Tod seines Wegbegleiters scheint etwas in Hamilton gelöst zu haben. "Ich komme hierher mit beinahe der doppelten Kraft", sagte er: "Ich will dieses Rennen noch mehr gewinnen - für ihn."

Der 31 Jahre alte Engländer präsentierte sich vor dem entscheidenden Rennen der Formel-1-Saison 2016 gänzlich anders als vor zwei Jahren in derselben Situation, am selben Ort. Damals schottete er sich mit seinem Gefolge förmlich ab. Damals hatte Hamilton eine Mauer errichtet, weil er fürchtete, dass ihm Rosberg im letzten Rennen dank unfairer Doppelpunkteregel die sportlich erstrittene WM abnehmen könnte.

Andere Vorzeichen als beim F1-Finale 2014

In diesem Jahr sind die Vorzeichen andere. Nicht nur, weil die Regel abgeschafft wurde und Rosberg in der WM führt. Selbst Hamilton scheint erkannt zu haben, dass er im Jahr 2016 einen ebenbürtigen Piloten auf der anderen Seite der Garage hat.

"Wir hatten Hoch und Tiefs", sagte Hamilton und bezog sich auf die mannigfaltigen Reibereien in der gemeinsamen Zeit bei Mercedes. Teaminterne Kollisionen wie in Spa 2014, in Barcelona 2016, gegenseitiges Abdrängen von der Strecken wie in Montreal und Spielberg. "Aber wir haben es geschafft - gerade im letzten Jahr und dem Alter, das wir erreicht haben..." Sie hätten die Spannungen gut in den Griff bekommen. Mehr noch: "Ich freue mich wirklich für ihn und seine Familie. Ich bin stolz, dass wir nicht mehr nur auf uns selbst bedacht sind. Ich bin stolz auf ihn und seine Leistung - vor allem dieses Jahr. Generell ist es ein Vergnügen, ihn als Teamkollegen zu haben."

Hamilton hat seinen Frieden mit der Saison 2016 gefunden, noch bevor sie beendet ist. Er will am Sonntag nochmals den Sieg einfahren. Mehr kann er nicht mehr tun. Rosberg reicht selbst beim Sieg seines Mercedes-Kollegen der dritte Platz für den ersten Titelgewinn seiner Karriere.

Ob Hamilton ihn deshalb in Sicherheit wiegen wollte? Ob seine lässigen Kommentare, sein generöses Lob nur weiteres taktisches Vorgeplänkel war? Ihm das zu unterstellen, wäre falsch.

Ein wenig Spannung bleibt

Trotzdem: Komplett abgebaut scheinen die Spannungen noch immer nicht. Die Hände wollten sich beide Mercedes-Fahrer für ein gemeinsames Foto nicht schütteln. Als Rosberg die von Mercedes verbreitete Erklärung wiederholte, warum das Team zu Beginn der Saison einige Mechaniker zwischen den Fahrern wechselte, kündigte sein großer Konkurrent an, in zehn Jahren die Wahrheit in einem Buch veröffentlichen zu wollen: "Das wird interessanter Lesestoff."

Ganz aus seiner Haut konnte Hamilton dann doch nicht. Er habe die letzten zwei Jahre in Abu Dhabi sein Potenzial nicht abgerufen, bekundete er: "Mein einziges Ziel ist, das zu tun."

Die Formel-1-Saison 2016 im Überblick